DE – Schütze, Irene; Katalog Essay Eberhard Bosslet Dingsda, Saarland Museum, Saarbrücken, 2012

Visuelle Indifferenz
Meine erste Begegnung mit Eberhard Bosslets Werk hatte ich 1987 auf der documenta 8, die ganz im
Zeichen postmoderner Fabulier- und Zitierlust stand. Im ersten Obergeschoss eines der rückseitigen
Treppenhäuser des Fridericianums hoben zwanzig Stahlrohrdeckenstützen einen alten, schwarz
lackierten Holzschreibtisch in luftige Höhe. Auf dem Schreibtisch stapelten sich hölzerne Verschalbretter
bis zur Decke. An der gleichen Stelle im darüberliegenden Geschoss standen 32 Stahlrohr
deckenstützen auf einem Podest aus aufeinandergestapelten Gehwegplatten. Sie trugen einen quergelegten
metallenen Büro-Schubladenschrank, der unter der Decke verklemmt war. Die Gegenstände
und Baumaterialien in beiden Geschossen waren derart zwischen Böden und Decken gepresst worden,
dass sie scheinbar die Funktion von Pfeilern übernahmen. „Anmaßend I“ (S. 75) und „Anmaßend II“
(S. 55) nannte Eberhard Bosslet diese beiden Installationen, die zur Werkgruppe der „Unterstützenden
Maßnahmen“ gehören. Es ist jene Reihe von Arbeiten, die der Künstler immer wieder zwischen
gegenüberliegenden Wänden bzw. zwischen Böden und Decken für einen bestimmten Zeitraum passgenau
installiert.
Bosslets „Unterstützende Maßnahmen“ stellen die Stabilität der jeweiligen Räume und das Gefüge
der eingebrachten Innenraumkonstruktionen infrage. Bei den „Unterstützenden Maßnahmen“ im
Museum of Contemporary Art in Sydney zum Beispiel ließ der Künstler die Trockenbaudecke des
Ausstellungsraums herausschneiden, weil diese seinem Einbau nicht standgehalten hätte und weil
so die darunterliegende tragende Gebäudekonstruktion verfügbar und sichtbar wurde. Die schwere
Installation, bestehend aus einer Vielzahl von breiten, vierkantigen Stahlstützen, wirkte wie eine
mächtige Absicherung des Gebäudes. Auch wenn Bosslets „Unterstützende Maßnahmen“ suggerieren,
der jeweilige Raum sei instabil und müsse abgesichert werden, so zeugen sie prinzipiell von Stabilität:
Die Stützen dürfen nur insoweit Kraft ausüben, als sie Wände und Decken nicht beschädigen, sie müssen
jedoch auch so stabil sein, dass sie nicht um- oder herausfallen. Mit seinen Einbauten thematisiert
der Künstler den Raum über seine sichtbaren Grenzen hinaus und lässt ihn als Teil eines architektonischen
Beziehungsgefüges erlebbar werden.
Während Bosslet bei seinen früheren „Unterstützenden Maßnahmen“ ausgesuchte Büromöbel einbezog,
beschränkt er sich seit 1990 konsequent auf Materialien aus dem Baugewerbe. Damit wächst
der irritierende Effekt: Das Kunstwerk ist visuell kaum von einer baulichen Absicherungsmaßnahme
zu unterscheiden. Diese „krude“ Ästhetik erinnert an Marcel Duchamps Readymades wie das umgedrehte
„Pissoir Fountain“ oder die liegenden Kleiderhaken „Trébuchet“. 1961 schrieb Duchamp rückblickend,
wie er dazu gekommen war, diese Gegenstände auszusuchen: „Diese Wahl beruhte auf
einer Reaktion visueller Indifferenz, bei einer gleichzeitigen totalen Abwesenheit von gutem oder
schlechtem Geschmack ... in der Tat eine völlige Anästhesie.“1 Folgt man diesem Statement Duchamps,
dann entschied er sich gerade für diese Gegenstände, weil sie außerhalb des Geschmacksdiskurses
standen, weil sie vollkommen unbelastet davon waren. Die „völlige Anästhesie“, die Gefühllosigkeit
gegenüber den Gegenständen, stand am Anfang, bevor er das standardisierte Pissoir und den
Allerweltskleiderständer in den Kunstkontext transferierte. Durch ihre Überführung in den neuen
Zusammenhang schuf er künstlerische Werke, die die überlieferten Vorstellungen von Schönheit
in der Kunst obsolet machten. Duchamps Readymades polarisierten das Publikum schließlich doch
in geschmacklicher Hinsicht. Mit ihrer „Antiästhetik“ beflügelten sie die Avantgardebewegungen
des 20. Jahrhunderts.
Nun, fast hundert Jahre nach Duchamps Präsentation des ersten Readymades, stellt sich die Frage
der avantgardistischen Provokation nicht mehr. Die zunächst von Duchamp beobachtete „visuelle
Indifferenz“ und die damit verbundene „Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack“
haben seither jedoch nicht an Aktualität eingebüßt. Eine Werkgruppe Bosslets, die ähnlich wie die
„Unterstützenden Maßnahmen“ „visuelle Indifferenz“ im Duchamp’schen Sinne vorauszusetzen
scheint, ist die Reihe der „Barrieren“ aus Beton.
1998 schuf Bosslet im Skulpturensaal der Kunsthalle Mannheim neben einer seiner Installationen
namens „Monocell“ aus Ytong-Steinen eine raumgreifende Installation mit dem Titel „Universal“ (S. 68).
Beide Arbeiten existierten temporär und wurden nach der Ausstellung demontiert. „Universal“ konnte
nicht betreten werden, da die installierten Betonquader Barrieren bildeten, das Eisengitter grob
gerastert war und die Stäbe an den Seiten der Betonkörper spitz herausragten. Auf den Schmalseiten
der liegenden Quader wurde jeweils ein kurzer Betonpfeiler in einem Guss errichtet. Bosslet setzte
die Pfeiler nicht direkt an den Kanten der Quader an, sondern rückte sie in gleichmäßigen Abständen
von ca. 15 cm ein. Aus den Pfeilern ragten oben kürzere Eisenstäbe heraus. Die symmetrische Installation
wirkte aufgrund der verwendeten Materialien und ihrer Größe wie das Bodenfundament eines
kleinen Gebäudes, das noch nicht fertiggestellt ist. Die in die Höhe aufragenden Eisenstäbe ließen
aber auch an gescheiterte Bauprojekte denken, denen ursprünglich weitere Stockwerke hinzugefügt
werden sollten.
Auf viele Museumsbesucher wirkte die Installation durch die Materialien von Beton und Eisen und
durch den unvollendeten Eindruck wuchtig bzw. abweisend, genauso wie die andere Installation
„Monocell“ aus hoch gemauerten Ytong-Steinen. Bei einigen warfen die beiden Installationen sogar
die Frage auf, warum Kunstwerke, die an eine aufgelassene Baustelle bzw. an ein Architekturfragment
erinnern, im Skulpturensaal der Kunsthalle Mannheim stehen. Ähnlich wie bei „Anmaßend I“ und
„Anmaßend II“ auf der documenta 8 fragten die Besucher sich, ob etwas mit dem Skulpturensaal
nicht stimme, ob er erneuerungsbedürftig sei, ob er baulich verändert werden solle. Der Skulpturensaal
wurde so selbst zum Thema. Seine räumlichen Dimensionen sowie seine Ausgestaltung mit
dunklen Granitplatten, weiß gestrichener Strukturtapete und großer Glaswand rückten in den Fokus
der Kunsthallenbesucher.
2003 führte der Künstler und Kunstwissenschaftler Sven Drühl in der Zeitschrift Kunstforum International
mit Eberhard Bosslet ein Gespräch, in dem er bezeichnenderweise nicht auf den „Geschmack“,
aber auf die „Ästhetik“ der Werke Bosslets einging. Drühl konstatierte, dass die Gegenstände, die
Bosslet für seine Werke benutzt, „umfunktioniert, ungewöhnlich kombiniert oder ihrer Funktionalität
zugunsten ästhetischer Gesichtspunkte völlig beraubt werden“.2 Bosslet entgegnete, dass es sich
„nicht um eine ästhetische Aufladung“ handele, „denn die Ästhetik ist schon da“.3 An anderer Stelle
im Interview konkretisierte Drühl seine These: Jene alltäglichen Baumaterialien und technischen
Gegenstände, die Bosslet in der Regel für seine Werke verwendet, hätten Qualitäten, die erst durch
ihre Präsentation im Kontext der Kunst eine „Ästhetisierung“ erführen: „Zum Beispiel, wenn die Gegenstände,
die du benutzt, an ihrem ursprünglichen Gebrauchsort bleiben,
selbst, wenn sie dort genauso drapiert liegen, dann sind sie nicht ästhetisiert. Die Ästhetisierung
entsteht durch die Kontextverschiebung, aber auch dadurch, als was etwas präsentiert wird, nämlich
als Plastik. Deine Arbeiten wirken ja wie ein Moore oder Deacon des 21. Jahrhunderts, aber eben
ohne angehübscht zu sein. Du hättest diese Gegenstände ja auch in Bronze gießen lassen können.“4
Die Diskussion, ob die verwendeten Baumaterialien und Gegenstände erst durch ihr Erscheinen im
Kunstkontext ästhetisiert werden, wie Drühl annimmt, oder ob sie von Anfang an ästhetisch sind,
wie Bosslet meint, führt zugegebenermaßen nicht weiter bei der Beantwortung der Frage, ob Werke
wie „Universal“ als „geschmackvoll“ oder „geschmacklos“ bezeichnet werden können. Hilfreich in
diesem Zusammenhang ist jedoch Drühls Beobachtung, Bosslets Werke seien nicht „angehübscht“.
„Ohne angehübscht zu sein“ bedeutet offenbar, dass sie nicht oberflächlich verschönert sind, dass
sie überhaupt nicht darauf ausgelegt sind, „schön“ oder gar „geschmackvoll“ im Sinne traditioneller
Plastiken zu sein. Sie sollen offensichtlich aber auch nicht „hässlich“ oder „geschmacklos“ sein,
denn Bosslet zufolge ist die Ästhetik der Materialien und Gegenstände ja „schon da“, und ein für
alltägliche Dinge sensibilisierter Betrachter wird dies bestätigen können, wenn er sein Augenmerk
darauf richtet.
Die künstlerische Darstellung von „Universal“ verweist durch Material und Form des Kunstwerks
zunächst auf Gegenstände und Konstellationen, die sich – denkt man an aufgelassene Baustellen –
meist zufällig ergeben haben und die durch ihre Alltäglichkeit meist gar nicht bewusst zur Kenntnis
genommen werden – die also im Duchamp’schen Sinne von einer „visuellen Indifferenz“ geprägt
sind, der man normalerweise mit Gefühllosigkeit begegnet. Diese erste Wahrnehmung lässt außer
Acht, dass Bosslet die Materialien für „Universal“ als Künstler bewusst auswählte und nach ästhetischen
Vorstellungen gestaltete. Der auf den Ausstellungsraum abgestimmte Grundriss des Gebildes,
die symmetrische Konstruktion der Installation, ihr sorgfältiger Aufbau und ihre minimalistische
Ausführung zeugen deutlich von ästhetischen Überlegungen. Es fällt jedoch schwer, eine solche
künstlerische Darstellung, die durch ihre Analogien zu alltäglichen Gegenständen und Konstellationen
weder gefallen noch missfallen will, mit der Kategorie des Geschmacks in Zusammenhang zu
bringen. „Universal“ entzieht sich dem Geschmack, so wie sich die Readymades für Duchamp durch
„Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack“ auszeichneten. Gerade hier liegt eine Qualität
der Arbeiten Bosslets: dass sie jene „visuelle Indifferenz“ für einen Moment aufscheinen lassen,
die im Alltäglichen erfahrbar wäre, die sich jedoch meist der ästhetischen Erfahrung entzieht, da wir
unsere Aufmerksamkeit nicht den „transition areas“ und den blinden Flecken zuwenden.