aus Irene Schütze, Geschmackvoll, geschmacklos, und jenseits des Geschmacks; in
Über Geschmack lässt sich doch streiten, Irene Schütze (Hg.) s. 107, Kadmos Verlag


Erster Exkurs: Über den Geschmack eines zeitgenössischen Kunstwerks

Inwieweit es sinnvoll ist, Werke zeitgenössischer Kunst mit der Kategorie des Geschmacks fassen zu wollen, soll zunächst am Beispiel einer Arbeit von Eberhard Bosslet diskutiert werden: Für den sechs Meter hohen Skulpturensaal der Kunsthalle Mannheim schuf Bosslet 1998 neben einer Installation namens Monocell aus Ytong-Steinen eine raumgreifende Installation mit dem Titel Universel3
Bosslet installierte Universal auf dem dunkelgrauen Granitboden der Kunsthalle auf einer Fläche von vier mal sechs Metern. Seiner künstlerischen Praxis entsprechend wählte er für sein Werk gewöhnliche Baumaterialien.

Er ließ vier auf dem Boden liegende Betonquader durch ein Gitter aus Armierungseisen vor Ort, zu einem flächigen, in der Mitte durchlässigen Gebilde in Beton gießen. Das Gitter aus Eisenstäben schaute an den Längsseiten de Gebildes heraus. Die Installation konnte nicht betreten werden, da die Quader Barrieren bildeten, das Eisengitter grobgeraster war und die Stäbe an den Seiten der Betonkörper spitz herausragten. Auf die Schmalseiten der liegenden Quader wurde jeweils eine kurzer Betonpfeiler in einem Guß errichtet. Er setzte die Pfeiler nicht direkt an den Kanten der Quader an, sondern rückte sie in gleichmäßigen Abständen von ca. 15 cm Zentimetern ein. Aus den Pfeilern ragten oben kürzere Eisenstäbe heraus.


Die symmetrische Installation wirkte auf Grund der verwendeten Materialien und ihrer Größe wie das Bodenfundament eines kleinen Gebäudes, das noch nicht fertig gestellt ist. Die in die Höhe gerichteten Eisenstäbe ließen aber auch an gescheiterte Bauprojekte denken, denen ursprünglich weitere Stockwerke hinzugefügt werden sollten. Auf viele Besucher wirkte die Installation durch die Materialien von Beton und Eisen und durch den unvollendeten Eindruck wuchtig bzw. abweisend, genauso wie die andere Installation Monocell aus hochgemauerten Ytong-Steinen. Die beiden Installationen warfen bei einigen die Frage auf, warum Kunstwerke, die an eine aufgelassene Baustelle bzw. an ein Architekturfragment erinnern, im Skulpturensaal der Kunsthalle Mannheim stehen." Stimmte etwas mit dem Skulpturensaal nicht, war er erneuerungsbedürftig, sollte er baulich verändert werden? Der Skulpturensaal wurde selbst zum Thema. Seine räumlichen Dimensionen sowie seine Ausgestaltung mit dunklen Granitplatten, weiß gestrichener Strukturtapete und großer Glaswand rückten in den Fokus der Kunsthallenbesucher. Ist es möglich, eine Installation wie Universal, die einen musealen Ort scheinbar in eine Baustelle verwandelt und damit den Ort der Kunst selbst problematisiert, als »geschmackvoll« oder »geschmacklos« zu bezeichnen, oder hat die Ästhetik des Werks nichts mit Geschmack zu tun?
2003 führte der Künstler und Kunstwissenschaftler Sven Drühl in der Zeitschrift Kunstforum International mit Eberhard Bosslet ein Gespräch, in dem er bezeichnenderweise nicht auf den Geschmack, aber auf die Ästhetik der Werke Bosslets einging. Drühl konstatierte, dass die Gegenstände, die Bosslet für seine Werke
benutzt, »umfunktioniert, ungewöhnlich kombiniert oder ihrer Funktionalität zugunsten ästhetischer Gesichtspunkte völlig beraubt werden«.' Bosslet entgegnete, dass es sich »nicht um eine ästhetische Aufladung« handele, »denn die Ästhetik ist schon da«." An anderer Stelle im Interview konkretisierte Drühl seine These: Jene alltäglichen Baumaterialien und technischen Gegenstände, die Bosslet in der Regel für seine Werke verwendet, hätten Qualitäten, die erst durch ihre
Präsentation im Kontext der Kunst eine »Ästhetisierung« erführen:

»Zum Beispiel, wenn die Gegenstände, die du benutzt, an ihrem ursprünglichen Gebrauchsort
bleiben, selbst, wenn sie dort genauso drapiert liegen, dann sind sie nicht ästhetisiert. Die
Ästhetisierung entsteht durch die Kontextverschiebung, aber auch dadurch, als Was etwas
präsentiert wird, nämlich als Plastik. Deine Arbeiten wirken ja wie ein Moore oder Deacon
des 21. Jahrhunderts, aber eben ohne angehübscht zu sein. Du hattest diese Gegenstande Ja
auch in Bronze gießen lassen können.«'


Der Diskussionsgegenstand, ob die verwendeten Gegenstände und Materialien erst durch ihr Erscheinen im Kunst-Kontext ästhetisiert werden (wie Drühl annimmt) oder ob sie von Anfang an ästhetisch sind (wie Bosslet annimmt), führt zugegebenerweise nicht weiter bei der Beantwortung der Frage, ob Universal
als »geschmackvoll« oder »geschmacklos« bezeichnet werden kann. Hilfreich in diesem Zusammenhang ist jedoch Drühls Beobachtung, Bosslets Werke seien nicht »angehübscht«. »Ohne angehübscht zu sein« bedeutet, dass sie offenbar nicht oberflächlich verschönert sind, dass sie überhaupt nicht darauf angelegt Sind,
»schön« oder gar »geschmackvoll« im Sinne traditioneller Plastiken zu sein. Sie sollen offenbar aber auch nicht »hässlich« oder »geschmacklos« sein, denn Bosslet zufolge ist die Ästhetik der Materialien ja »schon da«. und ein für ungewöhnliche künstlerische Materialien sensibilisierter Betrachter wird dies bestätigen können.

Die künstlerische Darstellung von Universal verweist durch Material und Form des Kunstwerks auf Gegenstände und Konstellationen, die sich - denkt man an aufgelassene Baustellen - meist zufällig ergeben haben und die durch ihre Alltäglichkeit meist gar nicht bewusst zur Kenntnis genommen werden. Dies,
obwohl Bosslet die Materialien für Universal als Künstler bewusst auswählte und nach ästhetischen Vorstellungen gestaltete. Es fällt jedoch schwer, eine solche künstlerische Darstellung, die weder gefallen noch missfallen will, mit der Kategorie des Geschmacks in Zusammenhang zu bringen. Universal entzieht sich dem
Geschmack. »Geschmack« ist für Kunstwerke wie Eberhard Bosslets Universal als Kategorie vollkommen unerheblich.


2 S. zur »geschmacklosen« Entgrenzung extremer Kunstpositionen und den damit verbundenen ethischen
J Fragen: Talon-Hugon, Carole, Gout et dégout: l'art peut-il tout montrer? Nimes: Chambon, 2003.
Beide Installationen existierten nur temporär, sie wurden nach der Ausstellung Fundamental wie Bilateral
abgebaut. Vgl. a.0sslet Archiv. Werkverzeichnis von 1979 bis 2001, CD-ROM zur Ausst. Bosslet Fundamental wie Bilateral, Stadtische Kunsthalle Mannheim, Mannheim 1998, 2., ergänzte und überarbeitete Galerieversion, Mannheim 2002; Eberhard Bosslet: work groups, Ausst.-Kat. Eberhard Bosslet. Modulare Strukturen Galerie der Stadt Backnang, und Eberhard Bosslet - Group Show, Stadtgalerie Saarbrücken, hg. von Stiftunq Saarlandlscher Kulturbesitz, Bielefeld: Kerber, 2006.

• So im Künstlergespräch mit Bosslet am 14. Juni 1998 in der Kunsthalle Mannheim.
5 Drühl, Sven, »Eberhard Bosslet, >Wenn ich mich tripeln könnte, würde ich alles parallel machen« Ein Gespräch mit Sven Drühl«, in: Kunstforum international, Bd. 164 (2003), S. 222-233, hier S. 225.
6 Bosslet, a.a.O., S. 225.



Abb. 2: Eberhard Bosslets Installation Universal (Beton, Stahl, 175 x 400 x 600 cm) im
Skulpturensaal der Kunsthalle Mannheim 1998; im Hintergrund die Arbeit Monocell