DE – Gisbourne, Mark; Katalog Essay Eberhard Bosslet Dingsda, Saarland Museum Saarbrücken, 2012


Zwischen Wahrnehmung und Zeichen
Schon in den frühesten Arbeiten von Eberhard Bosslet aus den 1980er-Jahren zeichnet sich sein
investigatives Denken ab, das, wie er ausführte, emotionale, diskursive, funktionale, intuitive, zufällige
und kulturelle Aspekte in den Blick nimmt und sich auf die materielle Beschaffenheit der Welt richtet.
Im Manifest der Künstlergruppe „Material & Wirkung e. V.“, die er 1981 mitbegründete, waren dies
die tatsächlich verwendeten Begriffe. Was von Anfang an die Vorgehensweise bestimmte, war das
Arbeiten mit vorgefertigten, in der Regel industriellen Materialien und einer bereits vorhandenen
Gegebenheit, einem Verfalls- oder Verlassenheitszustand, oder einfach die direkte Intervention in eine
so vorgefundene und günstige Raumsituation. Immer bildeten Bosslets Interventionen eine Dialektik
zwischen dem, was räumlich und/oder strukturell den Rahmen bildete und vorherbestimmte, während
die Antwort des Künstlers darin bestand, einen nicht funktionalen, jedenfalls nicht erkennbar funktionalen,
oder zu wenig genutzten Materialzustand ästhetisch zu refunktionalisieren. In Bezug auf seine
Skulpturen und Installationen wird dies von Anfang an deutlich. Die Arbeiten des ersten Jahrzehnts
legen somit das erkenntnistheoretische Fundament für alles Folgende.
In den 1980er-Jahren, beginnend 1981, setzte sein lebenslanges und bis heute andauerndes Wirken
auf Teneriffa und den Kanarischen Inseln ein. Dort reinszenierte er verfallene oder verlassene Architekturen,
indem er die Kanten der Ruinen mit einer Linie nachzeichnete und etwas sichtbar machte, das
zwar vorhanden war, aber nicht beachtet wurde. Ähnlich verfuhr er z. B. mit aufgefundenen rostigen
Autowracks, die er in einer Fotoserie dokumentierte, oder mit farbigen Trümmerfragmenten, die so
auf dem Boden ausgelegt und arrangiert wurden, dass sie ihr zuvor unbemerktes Dasein behaupteten.
Diese Arbeiten sind schlicht als Interventionen bezeichnet worden. Ihre Bestimmung lag darin, das
Unspezifische ins Ortsspezifische zu verwandeln, das Harmlose und Unbeachtete zu rahmen und
in den Vordergrund zu stellen. Diese Interventionen wurden mitunter in starken Farben ausgeführt,
mit Ausnahme der Werke mit weißen Konturlinien, und fortwährend verändert. In seiner „Mobilien
und Immobilien“-Serie von 1982 wird ein Roller durch seine diversen Stadien der Farbveränderung
und ortsspezifischen Positionierung zum bezeichnenden Sinnbild. Obwohl die Interventionen in der
Nachfolge der Land Art und Environmental Art der 1970er zu stehen scheinen, tendieren sie weder
zur Monumentalität, die Smithson kennzeichnet, noch zu jenen weitschweifig poetischen Träumereien,
die man mit Richard Long verbinden könnte. Bosslets Arbeiten im Freien sind kraftvolle Adaptionen
und von direkter wie unmittelbar transformativer Wirkung. Gleichzeitig offenbart die fotografische
Dokumentation einiger dieser Arbeiten, wie „Begleiterscheinung II“ (S. 44), die Verwandtschaft mit
Bosslets „Grundriss & Versorgungssystem Bildern“ der Jahre 1985 bis 1988. Indem diese Bilder mit
Industriematerialien ausgeführt wurden – Gips, Aluminium, Asphalt, Stahl und Kupfer –, die Bauliches
assoziieren, weitet dies die Verschränkungen von Bosslets künstlerischen Praktiken nur noch aus.
Die umgebungsbedingten Interventionen auf den Kanaren und die verwandten Serien „Reformierungen“
und „Begleiterscheinungen“ setzen sich in Bosslets Werk bis heute fort. Jedes Mal weckt die Beschäftigung
mit der ländlichen Umgebung absichtlich das Gefühl der Entwurzelung; das stabile Verhältnis
von Signifikant zu Signifikat, wie es zuvor bestand, durchläuft eine gewaltige Veränderung und erschafft
neue Parameter ästhetischer Bedeutung.
Die dialektische Verwendung von Architektur und Materialien aus dem industriellen Kontext ist ein
zentrales Moment aller künstlerischen Unternehmungen von Eberhard Bosslet. Sie bildet die intellektuelle
Infrastruktur seines künstlerischen Bewusstseins, wobei Themen wie Raum, Struktur und
Material, wie in „Material & Wirkung“, nichts weiter sind als die natürlichen Erweiterungen seiner
Ideen. 1985 begann Bosslet mit seinen architektonisch-räumlichen Interventionen, die er schlicht
„Unterstützende Maßnahmen“ nannte und die in zunehmend ausgeklügelteren Variationen bis 2006
in seinen Vorgehensweisen fortwirken. Indem er in der Länge verstellbare Stahlrohrstützen verwendet,
die gewöhnlich eingesetzt werden, um Architekturelemente wie Wände und Decken abzustützen,
thematisiert Bosslet mit seinen Gebilden die Idee des In-Verbindung-Setzens und Stützens. Vielfältige
Materialverschränkungen bilden einen wichtigen Subtext, der alle Werke Bosslets begleitet. Dennoch,
ungleich den Freiluft-Interventionen, von denen sich sagen lässt, dass sie einen bereits existierenden
Genius Loci refunktionalisieren, könnte man von den Innenraum-„Unterstützenden Maßnahmen“ in
gewisser Weise behaupten, sie defunktionalisierten ihn oder zumindest, dass sie den Betrachter die
Existenz des Raumes als verhandelbar und funktionsfähig aufs Neue gewahr werden lassen. Zuweilen
mögen die säulenhaften Gebilde als Notwendigkeit und Teil des Raums wahrgenommen werden, wie
in „Stammheim“ von 1986 (S. 57), während in anderen Fällen, wie in seinen Arbeiten „Anmaßend I“
(S. 75) und „Anmaßend II“ (S. 55), für die documenta 1987 geschaffen, das Werk die Frage nach der
Aufhebung dieser Notwendigkeit stellt. Durch die Verbindung von Elementen wie einem gefundenen
Aktenschrank, einem Schreibtisch oder Planken und Brettern täuschen die vertikalen Strukturen eine
Nützlichkeit vor, die sie jedoch sogleich negieren. Wir wissen, dass sie so, wie sie im Kasseler Fridericianum
installiert waren, keiner architektonischen lasttragenden Aufgabe dienten und nur installiert
wurden, um ihre eigene, „aufdringliche“ Präsentationsweise vorzuführen – eine wortwörtliche Intervention.
Ähnlich diente auch die doppelsäulige, aus Sockeln und Platten gestapelte Arbeit „ATLAS
HB“ von 1987, wie sie in der Bremer Kunsthalle eingebaut wurde, keinem wirklichen Strukturzweck
außer dem, seinen Status vorzubringen, und als unmittelbar zu lokalisierende Präsenz. Dennoch
dienen die verwendeten und gezeigten Materialien einer begreifbaren Konnotation, nämlich die
versteckt sichtbaren Konstruktionsprozesse aufzuzeigen (indexikalisch gesprochen), wie sie der
Architektur eigen sind. Außerdem wird in Arbeiten wie „UM-ANT Expander“ von 1985 (S. 60) oder in
der Pariser Installation „Expander I“ aus dem Jahr 1990 (S. 52) bis zu „Expander Berlin I“ von 2008
(S. 48) der horizontal zwischen den Wänden herrschende Druck betont, statt jenem zwischen Boden
und Decke. In allen Arbeiten wird die Vorstellung einer architektonischen Last und Spannung zugleich
heraufbeschworen und geschlussfolgert. In gewisser Weise und geringem Umfang reflektieren
diese stützenbasierten Gebilde die Düsseldorfer konstruktivistischen Traditionen der 1960er- und
1970er-Jahre, da deren Arbeiten ebenfalls Wiederholung, Stapelung, Einfassung, Industriematerialien
und Stützvorgänge einbeziehen. Diese Herangehensweise findet sich auch bei Werken von Künstlern
wie Joseph Beuys, Blinky Palermo, Imi Knoebel, Reiner Ruthenbeck und Reinhard Mucha. Zudem erinnern
diese Einflüsse oft stark an die malerische Entwicklung von Eberhard Bosslet. Im Unterschied
zu den konstruktivistischen Kompositionen der Düsseldorfer sind Bosslets „Unterstützende Maßnahmen“
jedoch weitaus architektonischer und interagieren dank ihrer Materialien mit ihrer spezifischen
räumlichen Umgebung.
Während die Mehrheit der Arbeiten von Bosslet eine Fülle unterschiedlicher Verfahrensweisen bereithält,
ist der materiellen Serialisierung seiner Ideen eine schlüssige Konsequenz zu eigen. Zum Beispiel
basieren die „Modularen Strukturen“ seit 1988 häufig auf Serien von Zeichnungen, die jede Projektinstallation
ins Detail ausarbeiten. Diese modularen Einheiten sind tendenziell als autonom zu betrachten,
paradoxerweise aber insofern, als sie zugleich als Skulptur, Objekt und Donald-Judd-haft
konstruierte minimalistische Systeme fungieren. Erneut beobachten wir ein Verrutschen von Signifikant
und Signifikat: Die installierten Module schaffen eine skulpturale und objektive Präsenz, irritieren
zugleich aber die Reaktion des Betrachters, indem sie auftreten, als wären sie nichts weiter als Teil
eines anonymen industriellen Triebwerks oder einfach der übrig gebliebene Teil einer Zentralheizungsanlage.
Es muss allerdings gesagt werden, dass die „Modularen Strukturen“ dank ihrer serialisierten
Entwicklung über zwanzig Jahre hinweg im bildlichen Sinn skulpturaler und weniger industrielastig
wurden. Die wiederholten Elementeinheiten sind im Ergebnis bunt geworden und tragen ihre farbige
Erscheinung zur Schau. Die lackierte Haut verdeckt etwas von ihrer frühen industriellen und massenproduzierten
utilitaristischen Nacktheit. Das Gleiche ließe sich über die pneumatischen Werke von
1989 bis 1998 sagen, die Druckluft verwenden, um Kissenteile aufzublasen, die sich zwischen mit
Ketten eingebundenen, massenhaft produzierten Industrieelementen wie Gitterstrukturen, Radiatoren,
Reifen und Radeinheiten sowie Hockerelementen ausdehnen. Und wirklich sind kleine Industriebauteile
wie auch Pseudomöbel in Bosslets Skulpturen eingegangen und formen in seinem Werk einen
unterschwellig veränderten Sinn. Viele dieser pneumatischen Installationen integrieren die Skulptur
und die akkumulierten objektbasierten Elemente innerhalb einer Architektur durch ihre Befestigung
an Säulen und Wandelementen mittels Verspannung, Ummantelungen oder pneumatischer Ausdehnungssysteme.
Gleiches gilt für seine industriegefertigten Lichtarbeiten, die er erstmals 1979
herstellte, als er noch die Berliner Kunsthochschule besuchte, und die sich seither zu verschiedenen
Zeiten kontinuierlich und nachdrücklich innerhalb Bosslets Werk weiterentwickelten.
Die komplexe Dialektik von Boden innen/außen, Wand und Decke muss in Bosslets Werk ständig
neu beschrieben werden und ist manchmal in Verbindung mit seiner Malerei leichter zu verstehen.
Von Anfang an pflegte der Künstler ein Interesse an räumlichen Einteilungen und Trennungen und wie
schon in seinen gemalten „Portal“-Arbeiten von 1979 drückte sich das in Werken über Türen, Tore und
Zäune immer wieder aus. Die Blinky-Palermo-hafte Bodenarbeit „Variable – Painted Panels“ von 1980
bis 1981 und die vierseitig bemalten, sockelähnlichen Kartons bieten die offensichtliche Wiederholung
von Formen auf, die man gewöhnlich in den Arbeiten eines Sol-LeWitt-haften Minimalismus findet.
Ähnlich verhält es sich mit den vielfarbigen Ketten dieser Zeit, manchmal als schlichte Bodenskulptur
auf den Boden geworfen oder, umgekehrt, als Freiluft-Interventionen präsentiert. Bosslets Gemälde
weisen demzufolge die gleiche stimmige Verwendung industrieller Materialien auf, die in ästhetischmalerischen
Gebrauch genommen wurden, wie seine dreidimensionalen Arbeiten. In einer ganzen Serie
farbbasierter Fotoarbeiten aus der ersten Hälfte der 1980er-Jahre experimentierte Bosslet kontinuierlich
mit der Vorstellung einer Wand als Gegenstand sowohl der Illusion als auch der Wirklichkeit.
Manchmal wurden reale Objekte an die gemalten Wandenvironments gelehnt und dann fotografiert.
Besonders beachtenswert sind vielleicht Bosslets sogenannte „Grundriss & Versorgungssystem-
Bilder“ von 1985 bis 1988 und „Emailtafeln“ aus den Jahren 1987 bis 1989, die nicht nur Aspekte
der Grundrisse aufgreifen, sondern auch auf die netzartige Verbundenheit der modernen Welt
anspielen. In dieser Hinsicht stehen sie nicht nur für die angedeutete kybernetische Beschaffenheit
der Welt der 1980er-Jahre, sondern entwickeln auch eine Vision der späteren Wirklichkeit der Motherboard-
Technologie. Diese abstrakten, rasterähnlichen Konfigurationen waren ein Phänomen der
Malerei der 1980er-Jahre und wurden gewöhnlich mit dem Werk abstrakter neogeometrischer Künstler
wie Peter Halley assoziiert. Aber nicht nur die von Bosslet aufgetragenen Materialien stammen aus
der Industrie, auch die Trägermaterialien selbst bestehen häufig aus massenproduzierten Materialien.
Bosslets Malerei auf alten Autowindschutzscheiben und Glasfragmenten, 1980 beginnend, ist bis heute
eine regelmäßig wiederkehrende Form seines kreativen Engagements. Sein wichtigster öffentlicher
Auftrag, „Auf dem Damm“, entstanden 1996 bis 2000 für die U-Bahn-Station in Duisburg-Meiderich,
ist zugleich ein Hauptwerk seiner Arbeiten in Farbe auf Glas. Während die Glasmalerei als solche eine
lange Tradition hat, war ihre Integrierung in die Architektur eines modernen Verkehrssystems eine
bedeutende Errungenschaft Bosslets. Zuletzt, seit 2003, verwendete der Künstler Fensterglas als Trägermaterial,
in das Löcher unterschiedlicher Größe geschnitten wurden. Dies hat den Effekt, dass die
bemalten und transparenten Stellen der Glasfläche in subtile Interaktion mit der Wand treten, an der
sie hängen und/oder fixiert sind.
Im Laufe des letzten Jahrzehnts setzten sich Bosslets Formwiederholungen fort, nun aber in eine
etwas andere Richtung, nämlich mit der erneuten Hinwendung zum öffentlichen Raum. Das zeigt sich
etwa in jenen Arbeiten seit 2001 aus Polyurethan und Fiberglas, die er seine „Biometrischen Skulpturen“
nennt und die wie riesige asymmetrische Wackelpuddingformen aussehen oder wie jene Miniatur-
Fischteiche, die man aus Gartencentern kennt. Stark farbig schaffen sie ein interaktives Environment
im öffentlichen Raum, wo Menschen sie häufig als Sitzgelegenheit nutzen. In anderen Zusammenhängen
war es vorgesehen, sie auf Seen und/oder Flüssen treiben zu lassen. In jüngster Zeit, seit 2007,
hat der Künstler seine Untersuchungen an massenproduzierten Einheiten, die anderen Funktionen
zugeführt werden können, erweitert: in der Serie „Kreise“, aus Einkaufswagen auf Supermarkt-Parkplätzen
installiert, oder in seinen sternförmigen Kreisen aus verzinkten Zauneinheiten. Gleichzeitig
intensivierte Bosslet sein Engagement auf den Kanarischen Inseln wieder.
Seit dreißig Jahren oder länger hat Eberhard Bosslets skulpturales Werk nun die Parameter der Wahrnehmung
und des unmittelbaren Verstehens umgestaltet. Gleichzeitig versetzte er die Signifikant-
Signifikat-Beziehung der verwendeten Materialien in ein neues Bedeutungsfeld – mit offenem Ausgang.
Womit wir in den Werken dieses Künstlers ständig konfrontiert werden, ist ein bildliches Gleiten,
eines, das den Betrachter absichtlich in jenen opaken Raum führt, der zwischen der menschlichen
Wahrnehmung und dem Zeichen liegt.