Material&Wirkung, Katalog des Kunsthaus Dresden, Juni 1998 von Christian Janecke

Zeitgenössische Bezüge zu Material und Wirkung

Die Geschichte der Kunst begründet ein Mißtrauen gegenüber dem Prädikat des “Aktuellen”. Nimmt man die Börsenkurse tonangebender Kunstzeitschriften und Großausstellungen zum Maßstab, so ist das, was Eberhard Bosslet, Werner Klotz und Otmar Sattel im Sinne des Ansatzes von “Material und Wirkung” machen, kaum als “aktuell” zu bezeichnen. Versteht man unter “aktuell” aber nicht nur das derzeit Aufsehenerregende, sondern das derzeit Relevante, sieht die Sache anders aus; nur muß man sich der Mühe des Vergleichens unterziehen, und man muß argumentieren.
Die vorliegende Untersuchung versucht es: Ansätze von “Material und Wirkung” werden am zeitgenössischen Umfeld, und d.h. eher an Strukturen als an Namen erprobt. Die für “Material und Wirkung” typischen Strukturen, Strategien, Betrachterbezüge entstanden nicht als willkürliche Charakteristika einer Modegeburt, sondern sie haben benennbare Wurzeln, Vorläufer und Parallelen, die ihrerseits natürlich auch nicht stehengeblieben sind, sondern die sich in z.T. verblüffender Nähe, z.T. großer Distanz ebenfalls in die Jetztzeit weiterentwickelt haben. Eine bloß auf die Gegenwart bezogene Konfrontation griffe folglich von vornherein zu kurz.
In ersten Abschnitt entwickle ich den Gedanken einer bereits in den frühen 80er Jahren stattfindenden Transformation aus älteren Prinzipien “Konkreter Kunst”( und Ansätzen aus dem Umfeld von Arte povera bzw. Prozeßkunst, um im zweiten Abschnitt einige zeitgenössische Konsequenzen zu diskutieren. Da ich bei “Material und Wirkung” (im folgenden nur noch: “M. & W.”) Überschneidungen mit der derzeitigen Service-Kunst sehe, ist ihnen der dritte Abschnitt gewidmet.
Die wenigen besprochen Beispiele geben keinen Überblick, nicht einmal eine Quintessenz der jeweils jüngsten Werke der Künstler in dieser Ausstellung, sie dienen in erster Linie der Veranschaulichung der vorgetragenen Gedanken. Die recht unterschiedliche Repräsentation der drei in der Ausstellung vertretenen Künstler im vorliegenden Text besagt nichts über das jeweilige künstlerische Gewicht, eher etwas über die Bedeutung für das fragliche Thema.
Konkrete Kunst thematisiert ihr Medium, allerdings bezieht sich der in ihr angestrebte wechselseitige Verweisungszusammenhang von Medium und Darstellung stets auf das für Bildende Kunst übliche Ausgangsmaterial: Stein, Holz, Metall und dergleichen in der Plastik, Farbe, Licht usw. in der Malerei. Holz demonstriert folgerichtig seine Spaltbarkeit, Stein sein Lasten, Papier die schönen und vielfältigen Möglichkeiten seiner Schichtung oder auch seiner Zerstörung durch variationsreiche Risse. In den 60er Jahren gab es zwei Erschütterungen, die zwar am Credo der unerschütterlich “Konkreten” abprallten, die aber für die Transformationen im Umfeld von großer Bedeutung waren.
Die erste dieser Erschütterungen vollbrachte die Minimal Art, indem sie die kunstüblichen durch industrieübliche Materialien ersetzte, ohne dabei dem Hang zum Elementaren, zur eherenen Rhetorik rechter Winkel und stummer Reihungen zu entsagen.
die zweite Erschütterung bestand in der programmatisch durch Arte povera, aber auch durch Prozeß-Kunst oder “Spurensuche” vertretenen Aufwertung jener anderen, ebenfalls nicht kunstüblichen “Materialien”, nämlich Treibholz, Reisig, Lehm, aber auch organischer Prozesse wie Gärung oder Wachstum, oder der Einbindung lebender Systeme, bis hin zum Einsatz von Tieren.
Weder von der Leere der Minimalisten noch von den Übungen der anderen Fraktion ließ sich die Konkrete Kunst beirren, um in der Folge - bestärkt im Angesicht des Feindes - zu jener Mischung aus Pragmatismus und Purismus zu finden, der sie und ihr Legitimationsapparat bis heute treu geblieben sind und die uns je nach Position mit beflissentlich variierter Produktion von an sich beschränkten Prototypen versieht.
Wenn ich oben andeuten wollte, daß die besagten Erschütterungen zwar für die Konkreten selbst zur Feuertaufe wurden, gleichwohl aber Transformationen im Umfeld stattfanden, so wären diese nun in verschiedenen Richtungen zu suchen: zunächst in der musterbeispielhaft durch Richard Serra vertretenen Wendung von der Objektivität des im Werk Gegebenen auf die subjektive Erfahrung durch den Beschauer, in dessen umschreitender, aufschluß-gebender oder auch gefährdeter Betrachtung des Werkes erst dessen Sinn liegt, weiterhin in einer mit der Orthodoxie Konkreter Kunst schwerverträglichen Ortsbezogenheit. Schließlich könnte man jetzt auf M.& W. verweisen, und zwar auf die frühe Zeit zu Anfang der 80er Jahre, als es zu einer eigentümlichen Synthese aus dem Selbstvorweisungscharakter Konkreter Kunst mit für diese Richtung gerade nicht gängigen - weil oft nur indirekt zu veranschaulichenden - Materialien und Gesetzmäßigkeiten kam. Wollte die Konkrete Kunst Komplexität reduzieren, indem sie einzelne Aspekte bzw. Effekte früherer Bildender Kunst isolierte und der Nachvollziehbarkeit halber variierte, so reagierte M.& W. auf dieses immanente Geschäft der Konkreten, wie es hundert Jahre zuvor manche Künstler in Abwendung von den Verabredungskontexten der Salonmalerei oder der Saturiertheit des L‘art pour l‘art hatten tun können, indem sie beharrlich auf das Gegebene in seiner Mannigfaltigkeit und seiner Widerständigkeit hinwiesen. Die Künstler von “M.& W.” trauten also den Ereignissen einer Flaschengärung, den farbigen Konturierungen ruinöser Bauten, oder der Komplettierung menschlicher Fadenverspannung durch Spinnen mehr in Bezug auf die Kunst zu als dem Subjekt. Die mit der Manifestierung von Materialrelationen, von Naturgesetzmäßigkeiten und -prozessen, mit den Kriechpräferenzen einer Schnecke einhergehenden Zufälligkeiten waren willkommen, solange es nur keine des Subjekts, der Künstlerwillkür waren.
Manche jüngeren Ansätze bei M. & W. Lassen sich fruchtbar mit den postmodernen Weiterentwicklungen, oder besser gesagt: Brechungsversuchen Konkreter Kunst vergleichen, für die musterbeispielhaft Beat Zoderer genannt sei. Wenn er auf weißem Karton die ästhetische Gespanntheit der farbigen Linie in Bildern der konstruktivkonkreten Moderne durch faktische Spannung elastischer bunter Haushaltgummis rekapituliert, so weiß man nicht recht, ob die zur Anwendung gebrachte Buchstäblichkeit parodistischen, also kritischen Ursprungs ist, oder ob es sich doch um eine Hommage bzw. eben nur um eine bildnerische Lösung mit simpelsten Mitteln handelt.
Eberhard Bosslets “Malerei”, die dem Pinsel das Bildmonopol streitig machen will, funktioniert vermittels eben dieser Buchstäblichkeit: Warum soll man zum Pinsel greifen, wenn die Industrie die herrlichsten Muster und Farben in einer Weise auf ihren Produkten zum Einsatz bringt, die jedenfalls unter der Hinsicht der Selbstthematisierung nichts zu wünschen übrig läßt? Allerdings - und hier zeigt sich ein nicht immer, aber sehr häufig aufrechtzuerhaltender Unterschied zum Ansatz Zoderers - Bosslet bewegt sich nicht zwischen verballhornendem Zitat und raffinierter Rekapitulation, macht also keine Kunst über Kunst, sondern er nimmt die Buchstäblichkeit, die er und Zoderer von Robert Ryman, vielleicht noch von Blinky Palermo lernen konnten, ernst, wendet sie also nicht zur Dekonstruktion, sondern erkundet neutral die Potenzen etwa einer schweren PVC-Plane, setzt sie darüberhinaus zu durchaus anders als “konkret” gelagerten, bildnerischen Zwecken ein.
Die im Vergleich bemerkte unterschiedliche Wertung eines ähnlich materialbezogenen Arbeitens mit reduzierter Farbe ist keine zufällige, sie spiegelt den unser Jahrhundert lang schwelenden, seit den 60er Jahren aber flagranten Konflikt um das Farb-Ready Made. Marcel Duchamp, so lehrt uns Thierry de Duve, hat nicht den ersten, aber den lautesten Zweifel am Sinn, an der mit der Rhetorik der Notwendigkeit vorgebrachten Option für genau die und keine andere Farbe gehegt. Man vernimmt diesen Zweifel in jüngsten Verulkungen der Monochromie, z. B. bei Johann Lorbeer, oder beim Kölner Hanno Otten, gewiß auch in den raumbezogenen Arbeiten Rockenschaubs aus den 80er Jahren. Der Schritt von Ryman zu Rockenschaub ist der Schritt von einer wertneutralen, ernsthaften Bemühung um bildnerische Konsequenzen des Farb-Ready-Mades zu seiner Verhöhnung, etwa wenn in rotem, an die Wand geschraubtem Plexiglas das Licht sich wirklich sammelt und zu den Rändern hin als rahmender Reif austritt, auf daß die in der Monochromie der Moderne beschworene Aura entlarvender Buchstäblichkeit überantwortet werde.3 Bosslet situiert sich zwischen diesen Möglichkeiten, indem er den Ernst bildnerischer Verwendung in Rymanscher Konsequenz übernimmt, ohne daß er auf die bei Rockenschaub ausgespielte profane Anmutung der PVC-Plane, ihren Ready-Made-Charakter verzichten und in Materialdemut kreisen würde.
Und da es schon um die “ehrliche Haut” der Werke geht: Sollte man Otmar Sattels Understatement Glauben schenken, wenn er - angesprochen auf die Bedeutung der Farbe einer von ihm im Kontrast zu einem weißen Ballon verwendeten roten Wärmflasche - schmunzelnd darauf hinweist, daß die roten Wärmflaschen eben die gebräuchlichsten und deshalb am leichtesten zu besorgenden seien? Zugegeben, geht es in erster Linie um die unterschiedliche Elastizität der verwendeten Gummihüllen, die sich anschaulich verschieden dem Druck der Gase widersetzen. Phänomenal wird der Betrachter jedoch mit zwei verschieden stark anschwellenden, verschiedenfarbigen Körpern konfrontiert; und unter Zugrundelegung der oben diskutierten Entwicklung einer konzeptuell und ironisch agierenden
Bezugnahme auf Farbe, auf Monochromie in der (“konkreten”) Moderne ließe sich das Ganze auch als Spektakel der Farben überspitzen: die Gase wären dann, bildlich gesprochen, Akteur, Farbe wäre das Stück! Dabei würde es sich um Farb-Ready-Mades der besonderen Art handeln: Die rote Wärmflasche und ihr weißes Pendant würden qua Ausdehnung die Nichtidentität von Erscheinung und der im Gummi materialisierten Farbsubstanz verkünden, und sie würden dies auf eine angemessen subjektferne Weise tun, indem der Künstler die ästhetische Kompetenz programmatisch in die Hände von Gärprozessen gelegt hätte!
Und überhaupt müßte man den bei Sattel augenscheinlichen, wechselseitigen Verweisungs- und Veranschaulichungszusammenhang von Medium und Darstellung bei näherer Betrachtung in Frage stellen: Für sich genommen findet eine Ausdehnung von Gasen optisch ja keinen Niederschlag, und die Kugelform eines noch dazu farbigen Ballons aus Gummi ist- abgesehen vom anschaulichen Maß der Ausdehnung - kontingent, will sagen, hätte ebenso gut auch in anderer Form, Farbe, Materialbeschaffenheit manifest werden können. Dann dürfte aber der Schluß erlaubt sein, zur veranschaulichten “Materialwirkung” geselle sich eine Darstellungsfunktion hinzu, was nicht schlecht zu den bereits angestellten Erwägungen über die Farbe paßt.
Wenn Sattel schließlich die Vergilbung überlappend gelegter, zwischen Glasscheiben gepreßter Baumblätter durch Bestrahlung mit starkem elektrischem Licht beschleunigt, so liegt die Vermutung nahe, die nach parawissenschaftlichem Habitus inszenierte Reihe von Variationen und die Einfriedung in ein bildartiges Koordinatengeviert solle der Ablesbarkeit und Quantifizierbarkeit des Prozesses dienen. Tasächlich haben die voluminösen Lampen jedoch einen Stellenwert, der weit über die vermeintlich nurtechnische Funktion hinausreicht, indem sie expressiven Charakters sind - nicht anders als jene Bauten der Moderne, die Funktionalismus nicht nur verkörperten, sondern darstellten.
Bei Werner Klotz erübrigt sich der Nachweis eines über die Veranschaulichung der “Materialwirkung” hinausgehenden Arbeitens; bereits sein früherer poetischer, z. T. bewußt kontrastiver Einsatz der Schnecken in verschiedensten Tableaus bezeugt eine Fähigkeit des Staunens, die jedenfalls kaum zu den bisher besprochenen, bzw. zum Vergleich aufgerufenen Traditionen sich fügt. Die mythologischen, manchmal auch symbolisch oder abbildend darstellenden, dann wieder nur sich selbst vorweisenden Funktionen, die später der Werkstoff “Glas” für Klotz einnimmt, haben das von “M. & W.” abgesteckte Terrain längst verlassen - es sei denn, man verstünde die Subsumtionen des frühen Manifestes, die sich als “Satzung” geben, in hermeneutischer Häme wortwörtlich, dann würde Klotz‘ Glasverwendung zwar noch dazugehören, leider aber auch so ziemlich alles andere in der Kunst, womit die Zuordnung einigermaßen frei von Sinn wäre! Man könnte einwenden, eine “M.& W.” gemäße Verwendung von Material liefere nur die Basis, auf der im weiteren eine beispielsweise metaphorische Verwendung wieder aufbauen könne, (nun aber stets eingedenk der Materialeigenschaften als solcher), in diesem Fall müßte man aber zugeben, daß dies doch bereits das frühere Verdienst einer älteren Künstlergeneration war, z. B. von Beuys, der mittels einer regelrechten Materialikonographie Mateialeigenschaften und Darstellungs- bzw. Symbolisierungsfunktion verschränken konnte; verwiesen sei auch auf Mario Merz‘ Verwendung von Glas.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Darin steckt keine Abwertung von Werner Klotz‘ Arbeiten, sondern nur die Feststellung, daß es sich bei seiner insbesondere späteren Arbeit nicht schlechterdings um eine recht fortgeschrittene Transformation von “M.& W.” handelt, wie dies bei Sattel und Bosslet je anders der Fall ist, sondern genaugenommen um eine ebenso berechtigte Kombination - und zwar mit Themen und Vorgehensweisen aus völlig anderen künstlerischen Feldern, die hier verständlicher Weise nicht Thema werden sollen.
Allerdings, so möchte ich die zuletzt getroffene Feststellung einschränken, gibt es eine andere Perspektive auf “M.& W.”, unter der gerade das jüngere Werk von Werner Klotz - nicht anders als namentlich das von Eberhard Bosslet - durchaus Thema werden sollte, nämlich die einleitend angekündigte Perspektive der Service-Kunst.
Unter Service-Kunst möchte im folgenden nicht nur Dienstleistungsangebote, sondern auch Benutzungsangebote von Produkten in künstlerischem Bezugsfeld verstehen, also z. B. nicht nur Reisebüros oder Kontaktadressendienste mit Kunstanspruch, sondern auch Zbginiew Liberas Gebärstühle für kleine Mädchen oder Carsten Höllers “Glück”.
Bisweilen die laboratoriumshafte Anordnung, häufiger die Anmutung technischer Nutzbarkeit, schliel3lich auch das Selbstverständnis von “Material und Wirkung” berechtigen zu einem Vergleich mit der Service-Kunst, wenngleich die Untersuchung von Gegebenheiten bei “M.& W.” kaum mit außerkünstlerischer Relevanz kokettiert, sondern eher der Schulung von Wahrnehmung und Sensibilität “dient”. Werner Klotz‘ Sehinstrumente haben Affinität zu den Angeboten der Service-Kunst, ohne daß sie sich, etwa im Falle von “Fernglas-lnstrument” ernsthaft zu optischem Gerät und seinen vielschichtigen Anwendungsmöglichkeiten in Konkurrenz setzen wollen. Einer Mischung aus Lade und Vitrine, deren Boden wiederum verspiegelt ist, entnimmt der interessierte Betrachter ein fernglasähnliches, auf preziose Weise versilbertes, gläsernes Instrument. Eine mit Schlußstein beschwerte Kette dient als Diebstahlschutz unter Bedingungen einer gewissen Nutzungsfreiheit durch den unbeaufsichtigten Besucher; aber natürlich handelt es sich ineins auch um die Darstellung eben dieses Schutzes, wie überhaupt die Materialvielfalt, die kostbare Darbietung eher zu einem Spiel nach Regeln der Kunst als zu pragmatischer Nutzung ermuntern. Läßt man es doch zu dieser Nutzung kommen, so erblickt das eine Auge des Betrachters sich selbst, das andere in ein euklidisch gerastertes, kaleidoskopisches Spiegelkabinett mit ebensovielen kubischen Zellen wie runden Löchern mit jeweils blickendem Auge. Freilich, ein schöner Effekt, und womöglich “funktioniert das Fernglas-lnstrument als Werkzeug elementarer Selbstreflexion”, aber dazu hätte es auch ein bescheideneres und nüchternes Arrangement getan. Möchte man das Darüberhinausreichende nicht als manieriert abqualifizieren, so dürfte man die Arbeit gerade nicht zum optisch-didaktischen Werkzeug der Selbsterkenntnis stilisieren. Statt dessen könnte erhellen, daß die angebotene Benutzung ihrerseits betrachtet werden soll.
Niemand glaubt und soll es auch nicht einmal auf den ersten Blick glauben, daß Eberhard Bosslets Hebekissen, Kompressionen, Barrikaden tatsächlich zu ausserästhetischen Nutzanwendungen gedacht sind, allerdings mutet man ihnen bisweilen Kräfte und Wirkungsmöglichkeiten zu, die sie unmittelbar anschaulich verkörpern, bzw. deren Anmutung sie aufgreifen. Man meint also tatsächlich Druck zu spüren, obwohl man ihn nur erschließt oder der Aktualisierung eines verinnerlichten Klischees aufgesessen ist, man läßt sich bei Bosslets zwischenarchitektonischen Verstrebungen gerne von dem Gedanken leiten, hier werde gestützt oder versperrt. Naturgesetzmäßigkeiten bzw. Bewirkungsverhältnisse werden expressiv oder virulent, selten spielen sie eine weitergehende Rolle. Schwerkraft, Druck in Behältnissen usw. deuten ihre Einsetzbarkeit an, aber eher in der Weise eines Prototyps, von dem sie selbst der einzige Fall sind. Service-Kunst hingegen imitiert technologisch und strukturell ausgefeilte Verwendbarkeit. Service-Kunst macht im Namen der Kunst Werbung für eine Praxis außerhalb dieser - darin kompromittiert sie den ästhetischen Schein. Ihre potentielle Benutzbarkeit ist daher gerahmt von den Meriten einer Prestige-Übertragung des imitierten Gegenstandsbereichs, worin sie sich letztlich als radikaler Naturalismus decouvriert. Unter dem Blickwinkel derjenigen Praxis, auf die Service-Kunst schielt, ist aber eindeutig, daß der Service der Service-Kunst mangels wirklicher Vernetzung hinter professionelleren Unternehmungen stets hoffnungslos zurückbleiben muß. Was darüberhinaus aber an Anmutung (z. B. das “Reisebürohafte”) übrigbleibt, fährt in den Schienen des Klischees bzw. des konterfeiten Vorbilds und muß dies auch tun, weil jede Abweichung als Verfremdung die Imitation und mithin die Glaubwürdigkeit gefährden würde.
Um ein Beispiel der ähnlich gelagerten Pseudobenutzbarkeit zu geben: Die Gebärstühle Z. Liberas wirken martialisch, weil unsere Kenntnis ähnlich gebildeter, echter Gebärstühle uns den eingeplanten, empörenden Analogieschluß auf vorstellbare Anwendung erlaubt. Keinesfalls aber birgt der Gebärstuhl Liberas in sich, also anschaulich etwas von der Wirkung, mit der er schocken will, seine Formensprache ist harmloser als bei einem Fitneßgerät. Eine Arbeit von Bosslet aber bietet in dem Maße Benutzbarkeit an bzw. strahlt Gefährdung auf genau diejenige Weise aus, die anschaulich in dem Werk angelegt ist, zwar nur als Prototyp, aber als genuin entworfener. Darin mag mancher einen Rückschritt zu einem Prinzip sehen, das z. B. durch Klaphecks obsessive Schreibmaschinen vertreten wird, welche auf genau jene spezifische Art drohten, die kraft Verbildlichung in ihnen sich erst erwies, statt einfach nur an einer allgemein bedrohlichen Anmutung zu parasitieren; Bosslets Vermeintlichkeit technischer Relevanz ist ähnlich präzise, weil anschaulich. Ihr Potential liegt in der Verbindung des Service der Service-Kunst mit der Möglichkeit der Fiktion, eine vermeintliche Wirkung spricht sich qua Gestalt erst in einer spezifischen und genuinen Art aus. Hier liegt nach meiner Einschätzung eine Aktualität von “Material und Wirkung”, die weder in bloßem Selbsterweis von Material (in Parallele zum Selbsterweis künstlerischer Elemente in der Konkreten Kunst) noch andererseits in der spröden Alternative der Service-Kunst: blanker Naturalismus oder Pseudo-Praxis sich erschöpft.
Service-Kunst polarisiert die Optionen “Betrachtung” und “Benutzung” und droht damit, sie zu trivialisieren. Indem die Arbeiten von “Material und Wirkung” beide Aspekte von vorneherein verschränken, dabei zugleich aber auf keine tatsächlich kunstfernen und mithin praxisrelevanten Kontexte zielen, können sie dem von der Service-Kunst reklamierten Animationsprogramm mißtrauen, ohne dem Betrachter reuige Rückkehr zum reinen Spiel reflektierter Anschauung nahelegen zu müssen.