Tagespost, 27./28. 4. 1996, von SIGRID DITSCH

Was hat Turmbau zu Speyer mit dem Wein zu tun?
Spektakuläre Hinweise auf rebenumrankte Ausstellung

Speyer. Die jugendlichen Passanten staunen: „Wird das eine Litfaßsäule oder ein Kunstwerk?“ Letzteres stimmt. Der Turmbau zu Speyer weist wie ein riesiger Zeigefinger zum Historischen Museum der Pfalz, wo am 11. Mai ein feucht-fröhliches Fest mit Gratis-Tropfen süffig einstimmen will auf die Ausstellung „Mysterium Wein. Die Götter, der Wein und die Kunst“. Ein Monster-Ereignis, das laut Museumsdirektor Meinrad Grewenig die größte und interessanteste Schau dieser Art, die es je gab, werden soll. Von den 400 hochkarätigen Meisterwerken sind bereits 30 eingetroffen.
Sehenswertes findet aber nicht allein im Saale statt, sondern auch draußen. Dort, wo bislang Rasen an der Stadteinfahrt grünte, macht sich ein unübersehbarer „Gärturm-Rotationsreaktor“ breit - ein Weingefäß der anderen Dimension. Noch wird am Blickfang des gebürtigen Speyerers Eberhard Bosslet gebosselt. Ähnliches präsentierte er 1995 beim Kunstverein Heilbronn. Beim Speyerer Aussichtsturm handle es sich allerdings keineswegs um ein Double, meint der Künstler, der bereits auf der documenta 8 in Kassel und in Mannheim art-gerecht vertreten war.
Zusammen mit Ottmar Sattel, Mitbegründer von „Material und Wirkung“ und Werner Klotz erstellt er ein „Projekt für den öffentlichen Raum“. Sponsoren machten dafür 150 000 Mark locker, die Stadtväter stimmten der Errichtung zu, und so mancher Speyerer reibt sich daran: „Das soll Kunst sein?“
Wenn das Werk vollendet ist, dürfen Interessenten sich selbst im Turm umschauen. Zehn Meter hoch, birgt er den Beschauer in seinem Inneren wie in einem Weinfaß und lenkt den Blick himmelwärts dort, wo es gärt und brodelt, wo durch ausgeklügelte Technik Gärgase (CO2) einen Ballon als Indikator für den Alkoholgehalt aufpumpen. Die Betonschale ist von Weinfässern umringt.
Nachts beleuchtet, soll der Gärturm bis zum Ausstellungsende am 22. September in Aktion sein. Dann wird diese Kunst recycelt. Solche Wiederverwertung gilt freilich nicht für die kostbaren Exponate etwa aus der Sammlung des Barons Thyssen-Bornemisza, Madrid, oder des Fürsten zul Liechtenstein, die den Betrachter von der altägyptischen Hochkultur bis in die Kunst des 20. Jahrhunderts in das Mysterium Wein entführen. Als Glanzlichter nennt Grewenig Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde und Hermam Nitsch, aber auch Objekte wie ein Tisch von Daniel Spöri und eine Flasche von Joseph Beuys.
Aufgetaucht ist das seit Jahrzehnten verschollene Ölgemälde „Windgötter dem Bacchusknaben Trauben stehlend“, das der Speyerer Künstler Anselm Feuerbach 1848 gemalt hatte. Der Wormser Oberbürgermeister Gernot Fischer machte das Werk im Schloß Herrnsheim ausfindig und. stellt es zur Präsentation zur Verfügung.
Zusammen mit dem Sponsor „Pfalzwein-Werbung“ trommelt ein achtseitiger Museumsführer in einer Auflage von fünf Millionen für die Attraktion in Speyer. 350 Gruppenführungen sind schon gebucht.