Handelsblatt, 25.11.1993, von CHRISTIAN HERCHENRÖDER

Spannungsfelder

Kontrastprogramm im Düsseldorfer Kunstverein

DÜSSELDORF. Der von Raimund Stecker geleitete Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen zeigt bis zum 9. Januar eine Doppelaussstellung, in der zwei Künstler, ein Amerikaner und ein Deutscher, auf höchst unterschiedliche Weise ihre Annäherung an die Welt der Industrie und Technik verarbeiten. Der 1962 in Baltimore geborene Lawrence Gipe stützt sich in seinen meist großformatigen Ölbildern, die maltechnisch in der Tradition des amerikanischen Fotorealismus stehen, auf Reklamebilder und Propagandafotos. Diese bereits werbetaktisch auf den Punkt gebrachten Vorlagen werden von Gipe noch einmal aussagekräftig manipuliert, indem er den Bildhintergrund aufhellt, Menschen eliminiert, Bildgegenstände vereinzelt, in Nahsicht rückt und mit knappen Textzeilen Distanz herstellt.
Diese Distanz ist auch dringend nötig. Denn auf den ersten Blick wirken diese Tafelbilder wie romantisierende Industrie-Ikonen, die ihre kraftstrotzende Ästhetik frei nach Marinetti aus der These gewinnt, daß ein dampfendes Stahlwerk schöner als die Nike von Samothrake sei. Erst auf den zweiten Blick, dann aber mit der nötigen Überzeugungskraft, wirken die kritischen Impulse dieser Malerei: das menschenleere Machtpotential einer Industriearchitektur, die unheilschwanger aus dem Bild ragende Turbinenachse, die rauchende Flanke einer Dampflokomotive.
Konzern- und Kommerzkritik wird hier artikuliert, das Menschenverachtende und Entpersönlichende von Produktionsprozessen in einer postindustriellen Ära aufgezeigt, die zum eigenen Überleben Abstand, Rückbesinnung braucht. Eine solche Distanz schaffen etwa die Textzeilen auf Gipes Bildern zum „Krupp Project“, die den magisch ausgeleuchteten Industrieanlagen Zeilen aus der Krupp-Biographie („Herr Alfred schlief immer ganz ruhig, wie ein Kind“) oder, in der altdeutschen Schrifttype des Dritten Reichs, den Satz „Hier wohnt Stille des Herzens“ hinzufügen: Hinweise auf private Innerlichkeit, die innerhalb dieser „insistierenden Landschaften“ ein paradoxes Spannungsfeld aufbauen.
Im Dialog mit dieser auftrumpfenden Malerei behaupten sich die quasiindustriellen Skulpturen des in Duisburg und Berlin lebenden Eberhard Bosslet sehr gut, gewinnen sogar an Eigenkraft. Was der 40jährige Bildhauer mit ihnen demonstriert, ist die Schönheit und ästhetische Aussagekraft industriellen Materials. Bosslet ersetzt Funktionalität durch Aura, indem er prall mit Druckluft gefüllte Hochdruck-Hebekissen zu Hauptelementen einer Säulenskulptur macht, ein feinmaschiges schwarzes Rolltor als Raumschranke durch den Lichtschacht der Kunsthalle zieht und eine Druckluftflasche so mit Mehrwegschläuchen bestückt, daß ein ununterbrochener Kreislauf oder stiller Energiestrom suggeriert wird.
Bosslet, dem es sichtlich auch um Raumwirkung geht, zeigt auf, welch materialsuggestive Wirkung das industrielle Fertigprodukt haben kann, wenn es von seiner ursprünglichen Bestimmung losgelöst und in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt wird. Diese Skulpturen wirken einsatzbereit, werden aber nicht „benutzt“, weil technische Funktion durch künstlerische Umgestaltung zur Nebensache wird: Industrielle Materialqualität ist in ästhetischer Akkumulation und Veränderung aufgegangen. Die solchermaßen mit „schöner“ Spannung aufgeladene Hülle ist jetzt Teil einer neuen Materialsicht, die ihre alten Ansprüche an das industrielle Produkt in einer höheren Wahrnehmungs- und Bedeutungsebene aufgibt. Der Betrachter kann das in dieser Doppel-Ausstellung ohne viel Gedankenballett nachvollziehen.
(Bis 9. Januar)

CHRISTIAN HERCHENRÖDER