Material & Wirkung, Katalog Kunsthaus Dresden, Juni 1998, von ANGELIKA STEPKEN

Notizen, Aktivierung

Anfangen: 1998 anläßlich einer Ausstellung in Dresden "Material & Wirkung" zu bedenken, ist ein komplexes Unterfangen. “Material & Wirkung” war in der ersten Hälfte der 80er Jahre ein Arbeitsbegriff, den zunächst sieben Künstler in West-Berlin formulierten und praktizierten. “Material & Wirkung” war zugleich “e.V.” und Veranstalter von Interventionen im Stadtraum sowie - 1983/84 - von Installationen und Performances am Standort einer ehemaligen Tresorfabrik im Wedding, den “Pankehallen HETAL”. “Material & Wirkung” war ein offener Arbeitszusammenhang, der über die Jahre projektbezogen viele Künstler integrierte. Obgleich 1981 im Statement von “Material & Wirkung” das Wort “Kunst” gar nicht vorkam, publizierte und profilierte “Material & Wirkung” ebenso entschieden wie forschend einen zeit- und/oder raumbezogenen Kunstbegriff, der das Werk als “Wahrnehmungsaggregat” verstand. "Material & Wirkung” hatte einen Anfang, aber kein erklärtes Ende. Verbindlichkeiten der Assoziation mußten stets aufs Neue konstituiert werden. So firmieren jetzt drei der ursprünglichen Gründungsmitglieder unter dem “alten” Label und behaupten dessen Kontinuität und Aktualität. Gleichzeitig wird “Material & Wirkung” nun aber auch selbst zum Material bezüglich der eigenen Wirkungsgeschichte. Statt diese verschiedenen, sich überlappenden historischen und künstlerischen Ebenen zu analysieren, soll dieser kurze Beitrag sich auf die Annahme einer Schnittstelle über die Zeiten und Orte fokussieren, nämlich den Begriff der AKTIVIERUNG. Aktivierung ist ein energetischer Prozeß, der alle möglichen Formen annehmen kann.
Berlin, 1981: Zwanzig Jahre nach dem Mauerbau (und nur sieben Jahre vor dem damals unabsehbaren Fall derselben) war West-Berlin keine “Kunstmetropole”. In den 70er Jahren waren in der Halbstadt die “Berliner Realisten” zum lokalen Markenzeichen avanciert. Nur wenige Personen engagierten sich weiterhin dafür, den Dialog mit dem (westlichen) internationalen Kunstdiskurs aufrechtzuerhalten. In der Berliner Kunstszene fanden dennoch Minimalismus, Konzeptkunst und “erweiterter Kunstbegriff” kaum einen maßgeblichen Niederschlag. Der Kunstmarkt überlebte auf Sparflamme. 1979 profilierten sich allmählich die “Jungen Wilden” vom Moritzplatz zum neuen Hoffnungsträger und erfolgsversprechenden Exportartikel der mystifizierten Berliner Kunstwelt. Trotz einer provinziellen institutionellen Infrastruktur, war die “Hauptstadt des Absurden” (Remy Zaugg) attraktiv für Künstler aus allen Himmelsrichtungen, um hier - für eine kurze oder lange Weile - zu arbeiten. Und die Selbstbefangenheit der Verhältnisse gebar aus der Not die Tugenden der Selbstorganisation: Bürgerinitiativen und Hausbesetzungen mobilisierten die politischen Verhältnisse Anfang der 80er Jahre, Künstler entwickelten nach dem Vorbild von “Selbsthilfegalerien” in den 60er Jahren alternative Modelle der künstlerischen Produktion, Präsentation und Repräsentation. Während einige dieser Initiativen darauf angelegt waren, schlicht Öffentlichkeit für ihre Atelierkunst herzustellen, reflektierten Gruppen wie “Büro Berlin” oder “Material & Wirkung” die Herstellungs- und Wahrnehmungsbedingungen von Kunst in der Produktion und Veröffentlichung derselben. Zehn Jahre später war diese Arbeit indes schon wieder ein “historisches Kapitel”: was einst “außerhalb” des Kunstbetriebs untersucht werden konnte, wurde inzwischen von seinem rasant expandierenden System verschlungen und verdaut. Die eingangs erwähnten generellen Postulate von “Material & Wirkung” - nämlich die der Zeit- und Ortsbezogenheit von künstlerischen Eingriffen - gehören heute im Rahmen einer allseitigen Event-Kultur zum A und O erfolgreicher Kunstpraxis (... dabei sein, nichts versäumen, partizipieren ...). In situ-Arbeiten katapultierten derweil allerlei mittelgroße Städtchen in das Branchenregister der internationalen Kunst.
Werkenergie/Wahrnehmungsaggregat: “Material & Wirkung” war mehr als ein historisches Phänomen. Der Arbeitsbegriff wurde 1981 so formuliert, daß er nicht unabhängig von natürlichen wie gesellschaftlichen Gegebenheiten praktiziert werden konnte, sondern genau jene zum Stoff der künstlerischen Recherche und Selbstreflektion deklarierte. Der Materialbegriff wurde so weit gefaßt, daß von Stoffen, Dingen, Lebewesen bis hin zu Strukturen und Systemen “im natürlichen, künstlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Raum” nichts per se ausgeschlossen blieb. Unter “Wirkung” wurden “alle Verstandes-, Wahrnehmungs- und Erlebnisqualitäten verstanden, die von den Materialien ausgehen und auf diese hinführen”. Das bedeutete, zum Beispiel gegenüber dem Anfang der 70er Jahren noch virulenten Materialbegriff des Minimalismus und der Arte Povera: “Material & Wirkung” ging nicht von einem “objektiven” Material aus, dessen Wirkung quasi dialogisch die Subjekterfahrung des Betrachters konstituierte. Vielmehr arbeitete “Material & Wirkung” mit der Konstruktion und Beobachtung von visuell oder auditiv erfahrbaren Prozessen, in denen der Beobachtende am Material seinem eigenen Wissen gegenübertrat - und damit auch jenem toten Winkel der Wahrnehmung, der Unschärferelation im Verhältnis von Betrachter und Betrachtetem.
In den Projekten von “Material & Wirkung” ging es um analoge künstlerische Versuchsanordnungen, die die Wahrnehmung selbst als fortschreitende Sinnproduktion infrage stellten. Welche Informationen birgt dann noch das Sichtbare - was ist zu tun mit den sogenannten Informationen? Bernd Schulz ordnete diese Problematik in einem Katalogtext einmal treffend in die Duchamps'sche “Tradition” eines “sterilen Begehrens der Junggesellenmaschine”. Programmatisch für die Projektarbeit von “Material & Wirkung” war - und ist - {wenn man dies für die Vielzahl der involvierten Künstler überhaupt so generalisieren kann), jene Bruchstelle in der Wahrnehmung, die Übertragung der künstlerischen Information durch Auge und Ohr, mit Druck und Energie aufzuladen. Es geht um Energie- und Kräfteverhältnisse, im Leben wie in der Kunst. Und es geht um die Wahrnehmung von Verhältnissen als Erkennen eines “Wirkungsgefüges”. Die Kunst, bzw. die Werkanordnung nimmt dabei den Status eines “Aggregats” zur Energieübertragung an. Die frühe Moderne operierte wesentlich mit den Ergebnissen und Fragestellungen der naturwissenschaftlichen Forschung. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts scheint der Druck nicht mehr von den Prämissen der Natur-Wissenschaft, sondern ihren Konsequenzen und Phänomenen auszugehen. “Material & Wirkung” blieb indes über die Jahre eng am “natürlichen” Stoff, den Kräften seiner Selbstorganisation und den Paradoxien ihrer technischen Simulation.
Kunst - Natur - Wissenschaft: Speziell bei den HETAL-Veranstaltungen 1983/84 in den Weddinger Pankehallen operierte “Material & Wirkung” mit dem Bild eines “Laboratoriums” als Raum naturwissenschaftlicher Forschung. Natürliche Energie wurde in Kunst überführt, sei es mittels der Dynamik von Wasser, Wind oder Gasen. Der performative Charakter der Ereignisse - die Präsentationen dauerten zwischen einem und drei Tagen - wurde interpretiert im Sinne eines provisorischen Werks, das sich der dinghaften Zirkulation entzog und in der direkten Anschauung bleibend einprägen sollte. Das Ambiente der industriellen Fabrikationshalle bot den Rahmen für dreidimensionale Installationen und Performances, die noch relativ unbeeindruckt waren von der Verführungskraft der technischen Bild- und Speichermedien. Doch die Fragen nach der Energieübertragung durch das Auge sind durch den massenkulturellen Umschlag vom industriellen zum elektronischen Zeitalter nicht weniger virulent geworden. Das vielzitierte Schwinden des Realen ist nicht identisch mit dem Schwinden realer Energie, sondern eine Frage ihrer Visualisierung. bzw. Vergegenwärtigung.
Enden: Drei Künstler, die sich - wie fast alle anderen damals an “Material & Wirkung” beteiligten Künstler auch - seit den 80er Jahren als Einzelfiguren mit einem kontinuierlichen Werk in die Gegenwartskunst eingeschrieben haben - aktivieren ihre freundschaftlich-kollegiale Verbindung über die Jahre und versammeln sich unter dem Ausstellungstitel “Material & Wirkung”. Eberhard Bosslet arbeitet in erster Linie mit physikalischen Druckverhältnissen von Körpern, verwendet Materialien aus Industrie und Verwaltung. Die objektiven Anordnungen laden den Raum auf, die physischen Verhältnisse des Materials übertragen sich auf gesellschaftliche Ordnungsprinzipien. Ottmar Sattel operiert mit biochemischen Prozessen, der sich selbst organisierenden Dynamik von Gasen in Körpern. Seine Energieskulpturen zielen auf überindividuelle physilogische Reaktionsmechanismen im Beobachter. Humoristische Spannung sorgt für die Auf- und Entladung psychischer Energien. Werner Klotz fertigt Seh-Geräte und Wahrnehmungsinstrumente in der verführerischen Perfektion wissenschaftlicher Gerätschaften. Ihr Gebrauch impiodiert indes im Zusammenprall eines rationalen, analytischen Denkens mit dem (Schrecken und) Begehren, den Abstand zum Bild zu verlieren. Die Genese dieser aktuellen Werke zurückzuführen auf die Ausgangsplattform von “Material & Wirkung”, wäre eine Leistung von zukünftigen Retrospektiven. Es ging und geht jeweils um den kritischen Punkt der Energieumwandlung und Übertragung. Insofern bleibt das Ende unabsehbar.