KUNST projekt 1, Siemens Kultur Programm, Katalog, von ULRICH BISCHOFF

Zeitgenössische Kunst in der HZN Zu den Arbeiten von Eberhard Bosslet und Raffael Rheinsberg in der Hamburger Zweigniederlassung der Siemens AG am Lindenplatz
Bei der Begegnung von zeitgenössischer Kunst mit der Zweigniederlassung eines großen Industrieunternehmens entstehen Irritationen, die selber Bestandteil der einzelnen Kunstwerke sind. Einen ersten Anhaltspunkt für das Vorhandensein von Verständnislücken bietet schon der Hinweis, daß die über 1300 Arbeiter selbstverständlich mit dem Kürzel HZN umgehen und sich kaum vorstellen können, daß diese Abkürzung für außenstehende genauso unverständlich ist wie die Abkürzung D &S (>Differenz & Simulationzeitgenössische Kunst< ist oder zu sein hat, so unklar, daß die anläßlich der Siemens-Ausstellung gefundene Überschrift >Zeitgenössische Kunst in der HZN< ein guter Ausgangspunkt für unseren Beschreibungs- und Deutungsversuch ist.
Am augenfälligsten, aber nicht unbedingt gleich als Kunstwerk erkennbar, ist Eberhard Bosslets Installation » Restrisiko«. An der Vorderseite des aus den frühen sechziger Jahren stammenden Gebäudes gibt es gewissermaßen parallel zur baldachinartigen Eingangsüberdachung einen vorkragenden Risalit, dessen offenes Erdgeschoß von zwei Säulen getragen wird. Unter diesem Vorbau, etwa zwischen den beiden Säulen, hat Bosslet seine >Unterstützungsmaßnahme< angebracht. Eine kleinere, fahrbare hydraulische Arbeitsbühne hat sich wie eine große Spinne in dem Hohlraum breitgemacht. Ihr von den vier Beinen - die als stabilisierende Stützen widersinnigerweise auf weichen Matratzenteilen aufsitzen - hochgedrückter Körper, mit der in ihm wohnenden Hydraulik, mündet in den ausschwenkbaren Arm mit der Arbeitsbühne. Statt eines Elektromonteurs oder eines anderen Handwerkers befindet sich in dem als Arbeitsbühne fungierenden Korb ein Bündel von Matratzen, die den Anschein erwecken, als ob sie zwischen dem stutzenden Korb und dem festen Gebäudeteil als Pufferzone den Druck auffangen. Der Künstler hat hier in ironischer Weise den beiden Säulen eine dritte Stütze beigegeben, deren Hauptmerkmal aber ganz offensichtlich eine für diese Aufgabe riskante Labilität ist. Das damit zum Zwecke der höheren Sicherheit, zum Auffangen eines möglichen Restrisikos eingesetzte Instrumentarium erweist sich als überflüssig, nutzlos, ja als gefährlich. Auch die andere Arbeit von Bosslet ist an einer Weichstelle des Gebäudes eingerichtet. Die im Rahmen der erhöhten Sicherheitsbedürfnisse in den letzten Jahren geschlossenen Schaufenster an der Gebäudeseite zur Adenauerallee wurden in einem Segment geöffnet und für die Installation >Friedliche Nutzung< zur Verfügung gestellt. Was auf den ersten Blick wie eine geschmacklose Dekoration aussieht, erweist sich bei der näheren Betrachtung als riskante Demonstration von Konsumgütern von Siemens. Im Mittelpunkt stehen die aufwendigen Anbringungen von alten Isolierungen, die Stacheldraht wie alte Telegrafenleitungen direkt an der Innenseite der Schaufensterscheibe auf Augenhöhe der davorstehenden Passanten entlangführen. Die direkt an die den Schaufensterraum stutzenden schmalen Stahlsäulen angeschweißten Porzellanisolierungen halten den unter
220 Volt stehenden Stacheldraht. An ihn als Stromquelle sind die verschiedensten Elektrogeräte angeschlossen: Glühbirnen, Steckdosen, Fernseher, Videorecorder, Staubsauger, Haartrockner, Dampfbügler, Wasserkocher, Allesschneider, Eierkocher etc. Ergänzt ist die reine Produktpalette mit einer großformatigen Luftaufnahme auf ein Werk von Siemens in Bayern und einer blauen Dekorationsdecke, die die Standsockel für weitere Produkte verdeckt. Insgesamt hat man den Eindruck, als ob die übliche Schaufensterdekoration noch nicht ganz fertig ist. Im Dunkeln leuchten die Kontrollämpchen der ausgestellten Geräte. Der trennende und schätzende Stacheldraht ist zusätzlich unter Strom gesetzt, eine Herausforderung für die Sicherheitsingenieure und das Sicherheitsverständnis des Hauses. Der Vorstellung einer friedlichen Nutzung der z. Zt. wichtigen Stromquelle Atomkraft wird hier in Form des lebensgefährlichen Stacheldrahtes eine optische Hinterfragung entgegengesetzt, die vor allem bei Mitarbeitern des Hauses erhebliche Widerstände provoziert hat. Daß dieser Faktor der Gefährdung nicht fahrlässig oder zufällig im Werk Bosslets auftaucht, belegt das Statement, daß der Künstler seinem Katalog von der Berliner Nationalgalerie aus dem Frühjahr 1989 beigegeben hat: »Ich bezichtige mich, wider besseres Wissen Materialien verwendet zu haben, bei deren Herstellung oder Verarbeitung man sich oder seine Umgebung schädigt.«