DAS KUNSTWERK, 4XIII , Dez. 1990, Magazine, S.3/4, Text von RAIMUND STECKER

„Kunst ist die geistige Umwertung der Materie“
Zu den weittragenden Gedanken von Theo van Doesburg vor und in den „Manifest“ genannten Grundlagen der konkreten Malerei

Der 1883 geborene und 1931 gestorbene C.E.M.Küpper, der sich Theo van Doesburg nannte und auch unter I. K. Bonset veröffentlichte, ist zweifelsohne einer der wichtigsten Künstler der historischen europäischen Avantgarde. Ob seine wirkende Kraft, sein Einfluß, eher aus seiner Kunst heraus strahlt, oder ob er sie seinen theoretischen Reflexionen verdankt, soll an dieser Stelle zwar gefragt, im weiteren aber nicht zu beantworten gesucht werden. Festzuhalten aber ist zweierlei: A) Van Doesburgs Einfluß und seine innovative Bedeutung ist sicherlich nicht auf dem Felde des Tafelbildes zu suchen, wie wir es für Mondrian behaupten können. Sein Denken umkreiste stets die künstlerische Ausdrucksform, der von selbst gesellschaftliche Bedeutung zukommt, die Architektur. Darin ist van Doesburg mit El Lissitzky zu vergleichen, denen dann Mondrian und Malewitsch gegenübergestellt gehörten. B) Van Doesburg wurde und wird als Theoretiker unzweifelhaft hoch geschätzt. Diese Einschätzung gründet in seinem wortgewaltigen Engagement für die Gruppe De Stijl, in dem Verfassen seines Bauhausbuches „ Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst“, vor allem aber in dem Mitmanifestieren der „Grundlagen der konkreten Malerei“ im Jahre 1930. Und darum wird es im folgenden hauptsächlich gehen.
Daß sich in van Doesburgs frühen Tagebüchern esoterische Anspielungen fanden und daß er eine Zeit lang zu christosophischen und theosophischen Protagonisten Beziehungen unterhielt, brachte ihn 1986/87 auch in die Ausstellung „ Das Geistige in der Kunst - Abstrakte Malerei 1890-1985“. Entscheidender und aktueller aber für die Diskussion, inwieweit die nicht mehr sich auf außerbildliche Vorbildlichkeit beziehende Kunst neues Ausdruckspotential zu eröffnen vermag, scheint zu sein, daß van Doesburg in seiner Kunst nicht abstrahierte, indem er reduzierte. Darin unterscheidet sich seine Kunst fundamental von der seines frühen Freundes und späteren Feindes Piet Mondrian. Kann Mondrians Schaffen als ein stetes Reduzieren vom außerbildlichen Vorbild hin zu einem jegliche Vorbildlichkeit verdrängenden Bild begriffen werden, so kann man van Doesburgs Kunstwollen begreifen als eines, das immer unter dem Primat der reinen Gestaltung stand. Aus dem architektonischen Ornament schöpfte er seine Formen, die so jedwede Referenz zu außerbildlichen Vorgegebenheiten verweigern. Daß diese Qualität dann aber nicht nur dekorativ zu verstehen ist, das will im folgenden aufgewiesen werden. (Abb. 1-4)
So nimmt es kein Wunder, daß van Doesburg künstlerisch gerade aufgrund seiner architektonischen Projekte im Bewußtsein geblieben ist: viele Verglasungen, Fußbodenornamente und Häuser hat er entworfen - sein Entwurf für das Straßburger Tanzlokal Aubette ist sein wohl berühmtester. (Abb. 5)
Seine klare Ausrichtung auf Gestaltung, die ihn immer in die Nähe zur sogenannten angewandten Kunst rückte und rückt, ist es auch, die van Doesburg eigentlich heutzutage aktueller sein lassen müßte, als er es ist. So weist z. B. das destruktivkonstruktive Eingreifen in vorhandene Architektur, wie wir es von Gordon Matta-Clark kennen, zurück auf die Ideen van Doesburgs. (Abb . 6)
Darum erscheint es dem Autor auch heute, in einer Zeit, in der Künstler immer zielgerichteter das Werk zugunsten einer architekturgebundenen Installation überwinden, historisch vonnöten, das Tun Theo van Doesburgs zu erinnern. Daß dies anhand seiner theoretischen Manifestation aus dem Jahre 1930 geschieht, zollt der Bedeutung dieser Schrift Respekt. Nicht aber soll dies darüber hinwegtäuschen, daß auch den Werken intensive Beachtung geschenkt werden muß.
In einem steten Rückbinden der Theoreme an Werke der Kunst soll dieses angesprochene Erinnern geschehen. Ausgehend von Werken Theo van Doesburgs soll die Kunst bis in die Gegenwart hinein daraufhin beleuchtet werden, ob das sechzig Jahre alte theoretische Gerüst nur historisches, oder auch noch aktuelles Gedankengut ist. So spannt sich der Bogen bis in die aktuellste Gegenwart, für die hier die Arbeit „Friedland“ (1990) von Eberhard Bosslet steht. (Abb. 7)
Zwischen zwei Stückgutpaletten, die durch vier Ketten miteinander verbunden sind, spannte Bosslet zwei Autofelgen, eine Teppichrolle und zwei Hochdruckkissen, wie sie unter anderem zum Heben von Flugzeugen verwendet werden, denen das vordere Fahrgestell weggebrochen ist. Diese Hochdruckkissen - werden sie unter Druck gestellt - spannen sich selbst, die Teppichrolle, die zwei Felgen und die Stückgutpaletten zu einer skulpturalen Einheit.
Zum einen erfand Bosslet durch diese Skulptur eine neue ästhetische Ausdrucksform für das auch aus seinen Installationen zu kennende Prinzip des Status quo der drückenden und haltenden Kräfte. Zum anderen aber auch bedeutet er mit dieser Arbeit, daß das rationali­stische Gedankengut van Doesburgs noch heute Gültigkeit besitzt. Nahezu alle manifesten Forderungen des Jahres 1930 sind von „Friedland“ eingelöst in diesem Werk aufzufinden. Aber auch solche, die durch sich anschließende Diskussionen und Werkerfindungen Gültig­keit erlangten. Denn, daß die Elemente des Teppichs, der Felgen, der Stückgutpaletten und der Hochdruckkissen mit ihren Schläuchen, Ventilen und der Preßluftflasche kaum solche sind, die van Doesburg unter „plastische Elemente“ verstand, tut der Logik der Arbeit Bosslets in der Folge van Doesburgs keinen Abbruch, da wie selbstverständlich bei einem Rückblick die Entwicklung zwischen Ereignis und Gegenwart mitzubedenken ist. So muß beispielsweise die Diskussion erinnert werden, die um das Bild der gemalten Flagge von Jasper Johns geführt wurde - ist es eine Flagge oder ist es ein Bild? Auf die Werkkonkretheit von Gegenständen wurde durch die Arbeiten Jasper Johns’ und die Reflexionen seiner Interpreten hingewiesen. Auch diese Gedanken finden sich im Werk von Bosslet wieder. Materialgeworden bedeuten sie eine Rückbindung in unseren Alltag, wie dies der Holländer van Doesburg durch seine Architekturen übrigens ebenfalls erstrebte - zur Skulptur gebunden bedeuten sie ihren nur künstlerisch möglichen und einen für die Gegenwart nur innovativ zu nennenden Status. Soweit ein angemssener Überblick des Folgenden.