Bosslet/Gipe, Kunstverein Düsseldorf, 1993, Katalog, Text von RAIMUND STECKER

FRAGEN NACH KUNST ÜBER TECHNIK

Die Produktionsbedingungen von Industrie und Kunst sind grundverschieden. Auf der einen Seite wird Detail für Detail von je verschiedenen Menschen, Teams, Firmen oder gar Konzernen unter dem Patronat eines mehr oder minder abstrakten Namens und bisweilen auch an je unterschiedlichen Orten, ja Kontinenten erfunden, konstruiert, produziert, gelagert und unter dem Firmensignet distribuiert, auf der anderen Seite wird in nahezu handwerklicher Werkstatttradition all dies individuell rückgebunden unter einem Dach organisiert. An diesen Verschiedenheiten ändern auch die künstlerfürstlichen oder managerhaften Konditionen nichts, in alten Fabrikgebäuden malen, oder doch zumindest mitmalen, Skulpturen und Installationen "nur" noch zu entwerfen, um sie dann von anderen fertigen und ausfahren zu lassen, prangt doch die Künstlersignatur als Zeichen persönlich verantworteter Innovations- und Produktionsleistung auf den Werken. Und, an diesen Verschiedenheiten ändern andererseits auch die konfektionsbetonten Industrieprodukte nichts, für die mit Druck- oder Stempelsignaturen, mit Portrait und Namenszug, Individualverantwortlichkeit vortäuschend, geworben wird.
Für die Gegenwart ist festzustellen: Nahezu nur noch die Kunst, beziehungsweise das ihr eingeschriebene Künstlertum, ist in der Lage, unserer diversifizierten Gesellschaft das Individuum zu retten, das eigenverantwortlich und unentfremdet produziert. So handelt es sich bei der obigen Beschreibung auch lediglich um das Aufzeigen von Näherungen, die die Verschiedenheiten von Kunst und Industrie weniger scharf erscheinen lassen. Aber es bleiben - bisweilen strategisch motiviert halt nur Näherungen. Denn die Bedingungen von Kunst sind fundamental anders als die der Industrie - und daraus folgend eben auch ihr Vermögen. So beginnt in der Kunst (von Ausnahmen abgesehen) beispielsweise die kenntlich gemachte Aufgabenteilung erst nach dem Produktionsprozeß - und selbst diese wird zumeist namentlich gekennzeichnet: Das Management erfolgt in der Kunst nicht selten durch den Künstler selbst. Public Relation, die Strategie, das getane Gute öffentlich werden zu lassen, überläßt der Künstler dem freien Kritiker, Marketing, die Methode, den Produkten einen Markt zu geben, den Galeristen. Diese wiederum setzen sich ethosbewußt von den reinen Verkäufern und erst recht von Art-Consultant ab. Kunstmessen werden nach musealen statt nach pekuniären Gesichtspunkten begutachtet, Kunstausstellungen gelten eher als Belobigungen denn als Promotionen, und der Kauf eines Werkes für das dunkle Depot eines Museums ist ein hehres Ziel öffentlicher Anerkennung.
Eine ästhetische, eine im ursprünglichen Wortsinne also "wahrnehmbare" Differenz der profund existierenden, gänzlich anderen Bedingungen von industrieller und künstlerische Produktion ist hingegen kaum feststellbar. So, wie es schon zu jener Zeit galt, als im Büro von Peter Behrens "seine" AEG-~Turbinenfabrikhalle (1908-1909) entworfen wurde, daß nämlich einem Gebäude von außen nicht mehr anzusehen ist, was innen geschieht, so ist es heute bei Industrie- und Kunstprodukt erst recht. Der bloße Blick offenbart zumeist weder die spezifischen Entitäten noch die fundamentalen Differenzen. Statt dessen wird in der Kunst der Faktor der von innen nach innen ausgesprochenen Deklaration dessen, was Kunst sei, immer dominanter, was auch bewirkt, daß gewisse Anachronismen immer Lichter aufscheinen. So werden zeitgleich ready-mades remaked, auralose, international vernetzt gefertigte Industrieprodukte durch Pseudopersonifikationen reauratisiert und andererseits mit historischer Akribie Werk für Werk nach Meister- und Schülerhand, nach Meister, Werkstatt, Umkreis oder Schule gesondert und im Wert bisweilen extrem unterschiedlich taxiert.
Zwischen der Potenz von Kunst und der von Industrie und erst recht der von sogenannter postindustrieller Industrie dehnen sich mithin Weiten, Weiten, die immer noch breiter worden, die sich aber auch schon wieder, wie bei einer zum Kreis sich biegenden Geraden an den Enden, annähern. Das Entscheidende bei diesem Prozeß scheint mir zu sein, daß seitens der Kunst (wie übrigens auch der Wissenschaft im allgemeinen und der Geisteswissenschaft im besonderen) ihre spezifisch mögliche Unentfremdetheit gewahrt ist und bewahrt werden muß. Denn sie vor allem garantiert (oder ermöglicht zumindest) dort subjektive und dadurch ästhetisch nachvollziehbare Analyse, wo apparativ (Flusser) funktionierende Systeme (Luhmann) in Funktion ihrer Funktionen funktionieren und den Funktionär bereits funktionell in Funktion genommen haben. Sie, die Unentfremdetheit der Kunst, vermag noch - vielleicht als letzte Bastion in unserer Zeit - individuelles Urteilsvermögen zu retten.
Mit Blick auf das Verhältnis von Kunst und Industrie ist folglich nie zu vergessen, daß alles einmal Künste waren - "technai" hießen sie bei den Griechen -, daß folglich der Blick der Kunst auf Technik stets einer ist, der aus gemeinsamen Wurzeln erwächst, auch wenn sich die Industrie mit all ihren technologischen Innovationen und organisatorischen Vernetzungen und die Kunst in ihrem perse wertkonservativen Sein mittlerweile weit voneinander entfernt haben. Alle Versuche folglich, Kunst als Kunst "betrieb" zu begreifen und dadurch vergessen machen zu wollen, daß (wahre) Kunst sich nicht "betrieblich" einspannen läßt, sich also nicht wie die Industrie als eine international vernetzte Institution, die das Spezifische der zumindest potentiell künstlerisch unentfremdeten Produktionsweise nicht berücksichtigt, organisieren läßt, mußten demnach so scheitern, wie sie in kurz zurückliegender Vergangenheit gescheitert sind. Denn das Vermögen der Kunst erweist sich gerade in ihrem Anderssein als die Industrie, womöglich in ihrem Noch-so-sein-wie-die-Industrie-früher-auch-war.

Kunstwerke, die sich offensichtlich industriellen Materialien oder Themen verschrieben haben, sind demzufolge besonders auf dieses spezifisch künstlerische Vermögen im Gegensatz zum industriellen hin anzuschauen und zu befragen. Denn rein unserer ästhetischen Wahrnehmung überantwortet, befreit also von den industriell vorgegebenen funktionalen Funktionen, denen ihre Erfindungen und Konstruktionen bisweilen galten, treten in ihnen Materialien und Funktionen, Ansichten und Prozesse vor unser vom eben industriell-funktionalen Verwertungszusammenhang entledigtes Auge. So, wie die in Abhandlungen von Theo van Doesburg und Erwin Panofsky diskutierte Kuh immer anders zu "sehen" ist (vom Metzger als Fleisch, vom Milchbauern als Milchgeber, vom Maler als Fleck in der Landschaft und vom Veterinär als Patient ... ) so verhält es sich auch mit den Werken von Eberhard Bosslet und Lawrence Gipe: Sie wirken bisweilen technoid, sind jedoch subversiv, oder wirken despektierlich, sind aber durchaus nobilitierend.


VOM ENTFUNKTIONALISIEREN DER GERÄTE

Zwei Röhren liegen nebeneinander. Sie sind nach vorn hin offen und hinten durch eine Schlauchkonstruktion miteinander verbunden. Ihr Produzent: Eberhard Bosslet; ihr Titel: "Einleiten l"; ihr Entstehungsjahr: 1993; ihre Materialbezeichnungen:2 SML-Eisengussrohre, schwarz, Durchmesser 300, Länge 3000 mm, 2 Dichtkissen PDK 150-300, 1 Chemieleichtschlauch mit außenliegender Stahlspirale; ihre Maßangaben: H = 30 cm, B = 350 cm, T 200 cm.
Die beiden schwarzen Röhren sind gegeneinander verschlossen und zugleich kommunizierend miteinander verbunden. Die Verbindung ist somit eine visuelle wie auch eine fiktiv funktionale. Sie ist mithin keine, die dem funktionalen Wesen der Röhren - etwas fließen zu lassen - auf einfache Weise genügt. Die die beiden Röhren gegeneinander verschließende und öffnende Verbindung besteht aus einem Schlauch mit Aluminiumarmaturen, die in je einen mit Druckluft gefällten Gummiball, den sogenannten Dichtkissen, so enden, daß der Schlauch ein Fließen durch die Dichtkissen ermöglicht.

Funktional-industrielle Verwendung finden diese "Geräte" gewöhnlich beim Abdichten von Röhren und beim Um- beziehungsweise Weiterleiten innerhalb von Rohrleitungssystemen. Ein weiteres Ausfließen von Flüssigkeit kann so in Fällen verhindert werden, in denen beispielsweise durch einen Leitungsbruch verursacht der strömende Inhalt sich ins Umfeld der Bruchstelle ergießt. Nicht aufgepumpt werden diese Bälle dann gegen die Fließrichtung in die Rohrleitung geführt,

um sie vor der Bruchstelle unter Druck zu setzen, was bewirkt, daß sie zum einen eine dichte, ein weiteres Ausfließen verhindernde Absperrung und zum anderen eine Um- oder Ableitung erzeugen.
Eberhard Bosslet umspielt und exportiert zugleich in seinen, oder genereller: mit seinem Arbeiten diese technische Einsatzqualität seiner verwendeten, eigentlich industriellen Materialien. Die Subversion im Umgang mit ihnen und die Faszination, die von ihnen ausgeht, fallen untrennbar in eins. Bosslet erzeugt sogar mit seinen Materialien Situationen, die ihrer funktionalen Zeughaftigkeit entsprechen, und dennoch sind diese erzeugten Situationen rein der visuellen Wahrnehmung überantwortet, ihrer Funktion ledig, also konkret nur das, was sie sind als das, was sie sind.
Denn selbstverständlich war kein Rohrbruch Anlaß für "Einleiten l", keine Pipeline existierte und auch kein Event einer produktorientierten Demonstration der verwendeten Werkzeuge bestand. Genauso wenig galt es bei "Gegenstände l", einen Raum abzuteilen oder zu schließen. Zur Anschauung gelangen in Bosslets "Werken" statt dessen die "Geräte" in ihrer rein materialen wie zeughaften Bedeutung - und das unter dem individuellen, jedweder fremdfunktionalen Eingrenzung ledigen Formwillen des Künstlers.
Die Geräte werden in den Arbeiten Eberhard Bosslets gleichsam auf ihre materialen wie zeughaften Füße gestellt: Sie werden gewissermaßen "unschuldig" geschaut und verwendet, um neue plastische Phänomene zu erschaffen. So worden sie, was sie sind, um Teile von Skulpturen zu sein, die ihrerseits wiederum "nur" das sind, was sie sind.
So auch treten in "Mutual" dem Betrachter Hochdruck-Hebekissen gegenüber, die, eingeklemmt zwischen Autofelgen und mit Stangen verbundenen Kanaldeckeln durch ihr Unter-Druck-Stehen eine Skulptur dieser in der Aufzählung bloßen Dingkonstellation erzeugen. Wie schon in der Werkgruppe der

"Unterstützenden Maßnahmen" vermögen diese Skulpturen nur in dem betont ausgewogenen Zustand eines Weniger-als-zuvielurid-mehr-als-zuwenig-an-Druck zu existieren, da ein Zuviel die Skulptur sprengen und ein Zuwenig sie in sich zusammenfallen ließe. Konstitutiv ist dieser ausgewogene, Maß demonstrierende Status quo eigentlich allen statischen und somit skulpturalen wie plastischen Verhältnissen. Nur: Eberhard Bosslet präsentiert ihn pointiert, er verweist dezidiert durch die Verwendung von Stahlrohr-Deckenstützen in seinen "Unterstützenden Maßnahmen" oder von Hochdruck-Hebekissen mit Druckluftflasche, Druckminderer und Druckanzeiger in seinen neueren Arbeiten auf diese seinen Werken schon nahezu narrativ konstitutiven Bedingungen. Das Maß des Status quo des Druckausgleiches tritt dementsprechend gleichberechtigt so neben die Präsenz der Materialien, wie in seinen "Begleiterscheinungen" Malerei, Installation, Architektur und Skulptur gleichwertig zueinander fanden. Besonders deutlich tritt dieser Status quo des einspannenden Drucks auch bei den Projekten "Feyerabend II" und "Feyerabend III" vor unser Auge. Gleich den Installationen der "Friedland" Gruppe oder der Arbeit "Gegenstände I" wird in ihnen abrollbares Material durch Hochdruck-Hebekissen eingespannt. In dem Lichtschacht des Kunsthallengebäudes soll eines der beiden Projekte installiert werden.
Das Technische steht also auch hier wieder im Vordergrund - nicht hingegen das Funktionale, das für spezifische Anwendungsbereiche Produzierte von Technik. Das freigestellt Zeughafte der verwendeten Technik ermöglicht erst die Installation, es ist Voraussetzung für sie. Denn daß ein Rolltor, wie es für gewöhnlich zum Öffnen und Schließen von Hallen Verwendung findet, nun im Lichtschacht „schwebt" oder aus ihm herunterhängt, richtet den Blick nicht auf das Tonhafte dieses Materials, sondern auf dessen eigene Visualität und vor allem - in Verbindung mit den anderen Materialien und der gegebenen Gebäudesituation - auf das Skulpturhafte des Geschaffenen. Rolltor und Hochdruck-Hebekissen, Druckluftflaschen und Schläuche, Autofelgen, Gummireifen und selbstverständlich auch das diese Installation erst ermöglichende Gebäude werden zu Teilen einer Skulptur, die sich fundamental an unser plastisches Wahrnehmungsvermögen wendet. Alles ist Plastik, was menschlich arrangiert den Blick bindet, um das Arrangierte sehen zu lassen.

Raimund Stecker, Kunstverein Düsseldorf, 1993