PLANEN, Kunstverein Heilbronn, 1995, Katalog, von ELLEN SEIFERMANN

Emanzipierte Zwitter
Der Blick folgt dem Verlauf der schmal rechteckigen, durchsichtigen Felder, springt über auf die monochromen Farbflächen, wird erneut von den hellen Linien in Bann gezogen und sucht schließlich in der klar definierten Randzone zur Ruhe zu kommen; es gelingt nicht. Obwohl Eberhard Bosslets Wandbehänge, hier insbesondere die zwischen 1989 und 1991 entstandenen RH-Arbeiten, aus einfachen, rechtwinkligen Farbformen konstruiert sind, schafft die Gliederung der hellen Linien eine starke Unruhe innerhalb der Bildflächen. Die Wandbehänge bestehen aus einer Lage von farbigen, durchsichtigen und transparenten, plastifizierten Segeltuchflächen, die miteinander vernäht sind. Durch Ausschneiden von schmalen Feldern aus der Farbfolie und paßgenaues Einfügen durchsichtigen Materials entstehen im Negativ lineare, konstruktive Zeichnungen. Ihre Anordnung erinnert an Leitungs- und Wegesysteme, labyrinthartige Grundrisse oder Konstruktionspläne. Verfolgt man die fortgesetzte Bewegung der Linien in einem Bild, so findet man sich in einem geschlossenen Schaltkreis wieder - der Rand verweist den Blick stets in das Bild zurück: Mobilität als urbane Konstante menschlicher Existenz, die ausschließlich auf sich selbst bezogen ist.
Bereits ab 1992 verliert sich die optische Ruhelosigkeit. Die mit DURH und ROTT bezeichneten Arbeiten weisen eine strenge, gleichmäßige Reihung von Linien oder Feldern auf, die Farbigkeit ist reduziert auf schwarze und durchsichtige Folien, die stark betonten Randzonen entfallen, teilweise laufen die Linien nun auch bis zum Bildrand aus. Das Weiß der Wand ist Bestandteil der Bildorganisation. Die markante Befestigung dieser Wandbehänge befindet sich nicht mehr innerhalb des Bildformats; das Segeltuch ist an der Bildkante umgeschlagen, Stahlschnüre, die außerhalb der Bildfläche von breiten Winkelelementen gehalten werden, tragen und spannen die textilen Flächen, und schaffen einen Zwischenraum zwischen Bild und Wand.
Die Ablösung der Bildfläche von dem sie tragenden Untergrund und die damit verbundene Erweiterung des Malereibegriffs ist bereits in den mit GFF (Glas, Farbe, Farben) gekennzeichneten Arbeiten von 1980/81 angelegt. Der nur partielle Auftrag von Farbe und Lack, später auch Bitumen, Zinksulfid und anderen Werkstoffen setzt den Untergrund dem Farbmaterial gleich. Die materiellen und visuellen Eigenschaften des Bildträgers - Glas, Windschutzscheibe oder Polyäthylenplatte - werden integraler Bestandteil der Bildwirklichkeit.
Vollzogen wird die Ablösung der Bildfläche vom Bildträger jedoch erst mit den Wandbehängen. Die grundlegenden Elemente der Malerei - Fläche, Linie, Farbe und Form - befinden sich auf derselben Materialebene. Das Bild und sein Material sind identisch, ein mit der Oberfläche fest verbundener Bildträger wird nicht mehr benötigt. Trägerfunktion übernimmt bei den Wandbehängen nur noch die Art und Form der Befestigung, visuell wird die Wand als Bildgrund in die Flächen einbezogen. Dadurch wird die umgekehrt logische Trennung zwischen dem Bild und seiner Umgebung eigentlich erst sichtbar gemacht - im Moment ihres Zusammenfallens.

Mit den neuen Arbeiten von 1995, den "Schürzen", geht Eberhard Bosslet noch einen Schritt weiter: diese Wandbehänge heben sich mit deutlichem Zwischenraum von der dahinterliegenden Wand ab, die auch optisch nicht mehr in die Bildfläche eingreifen kann. Die "Schürzen" sind selbsttragend - emanzipierte Zwitter zwischen Bild und Objekt, die das Tafelbild in den Raum hinein erweitern.
Ähnlich wie Robert Ryman, der die Überlagerung unterschiedlicher Texturen, Befestigungen, Trägermaterialien und Farbschichten offenlegt und damit zum Sujet seiner Gemälde macht, untersucht auch Eberhard Bosslet die materiellen Bildelemente und ihr Zusammenspiel als Bedingungen einer rein visuellen Wahrnehmung. Die sichtbaren Mittel - reale Materialien, ihre Auswahl, Handhabung und Zusammenstellung sowie die Wechselwirkung zwischen Bild und Wand - formen das Bild nicht nur, sondern sie sind selbst Bildgegenstand.
Eberhard Bosslets Bilder sind Malerei, nicht im Sinne eines strengen Gattungsbegriffs, sondern als ästhetische Praxis und Haltung. Sie basieren ebenso wie die Skulpturen und Installationen auf dem Prinzip des additiven Montierens und Komponierens schon vorhandener, technischer Mittel. Die Einführung alltäglicher Werkstoffe in den Kunstkontext entspricht ganz konkret der Funktionalität dieser Materialien, und erzeugt doch gleichzeitig autonome, selbstreferentielle Gegenstände. Als Hinweis auf die textilen Materialien der Wandbehänge trifft der Titel "Planen" für Ausstellung und Katalog ebenso zu wie auf den aktiven, reflektierenden Herstellungsprozess. Eberhard Bosslets Entscheidungen für bestimmte Materialien, Halterungen, Farbformen oder Zwischeräume belegen eine Strategie künstlerischer Praxis, die auf die Konstruktion von Wirklichkeit zielt.