Material & Wirkung, Katalog Kunsthaus Dresden, Juni 1998, von THOMAS WULFFEN

Material & Wirkung
Ein Rückblick aus den Neunzigern

Das Material liegt vor und nach vierzehn Jahren ist eine Neubewertung des Materials und deren Wirkung notwendig, aber prekär. Der Kontext für Kunst aus Berlin hat sich verändert. Zu Beginn der achtziger Jahre war Berlin künstlerisch eine Insel. Das änderte sich kurzfristig und kurzzeitig durch den Erfolg der Maler um die Galerie am Moritzplatz. Danach kehrte wieder Ruhe ein und diese Ruhe hätte lange angehalten, wäre eine Epoche nicht zu Ende gegangen, die Epoche des kalten Kriegs. Zentraler Ort dafür war Berlin.
Dieser Ort, politisch und kulturell, schaffte die Bedingungen und Möglichkeiten, daß die Formierung einiger Künstler in Material & Wirkung und deren manifeste Etablierung in der legalen Form des Vereins stattfinden konnte. Zum einen eröffnete die Situation im übertragenen und wahrsten Sinne des Wortes die Räume für Selbsthilfeprojekte. Zur damaligen Zeit bestand eine Galerienzentrum rund um den Fasanenplatz in Berlin-Charlottenburg, im Westteil der Stadt. Was davon außerhalb lag, waren schon alternative Orte wie die Galerie am Moritzplatz oder Material & Wirkung und Büro Berlin mit seinen unterschiedlichen Projekten. Im sprichwörtlichen Hunger nach Bildern aber geriet die West-Metropole in den Fokus internationaler Beachtung und die Galerie am Moritzplatz war nicht mehr alternativ. Die Entdeckung der Arbeit des Büro Berlins und Material & Wirkung vollzog sich erst Jahre nach deren wichtigsten Aktivitäten. In diesem Falle war der Zeitgeist und die Ausstellung “Zeitgeist” gegen eine derartige Kunst.
Für die neunziger Jahre ist festzustellen, daß die Entwicklung der Kunst beziehungsweise die Ablösung einer Kunstströmung durch eine andere sich beschleunigt hat. Das bedeutet aber auch, daß Erinnerungsarbeit im Betriebssystem Kunst unterbewertet ist. Weil alles aktuell und neu sein muß, gilt ein historisches momentum als eine quantité negligable. Das vermittelt den Eindruck, als sei tatsächlich alles neu und innovativ. Dabei ändern sich nur die Kontexte und diese verändern die Wahrnehmungsweisen, mit denen Kunst rezipiert wird. “Primäre Objekte” im Sinne von George Kubler wird man nicht finden. Derartige Objekte schaffen erst den Kontext, in dem sie wahrgenommen werden können, und führen zu Repliken. In einer bestimmten Situation können sich primäre Objekte aber auch als primäre Situationen zeigen.
Das galt für die Arbeit des Büros Berlin. Und das galt für Material und Wirkung. M & W realisierte Projekte unterschiedlicher Natur und Orte auch außerhalb von Berlin. Die zeitlich und organisatorisch offene Form des tatsächlichen Mangements charakterisierten die Projektstrategien und Betreiber von M & W. Ein weiter Künstlerkreis entwickelte und veröffentlichte seine Untersuchungen im Konsens mit Material & Wirkung. Der Eingriff in die gegebene Struktur war jeweils ein Unikat Was von den Eingriffen übrig blieb, waren Erfahrungen, Erinnerungen, Photos und erklärende Texte.
Derartige Verfahren haben sich mittlerweile durchgesetzt. In regelmäßigen zeitlichen Abständen werden Selbsthilfeprojekte von ähnlichem Zuschnitt realisiert Im Rückblick bleibt es allerdings bemerkenswert, daß Kunst vor Ort beziehungsweise Situative Kunst besonders Anfang der achtziger Jahre einen Stellenwert besaß, den sie in der Folge nie mehr erreichen konnte. Das mag einerseits an der Tatsache gelegen habe, daß der Hunger nach Bildern und dessen Befriedigung aller anderen Kunstformen in den Hintergrund drängte. Zum anderen eroberten sich diese Kunstformen den öffentlichen Raum stärker als davor. Dies konnte auch geschehen im Sinne einer Kunst am Bau oder Kunst im öffentlichen Raum. Darüberhinaus wandten sich die Institutionen verstärkt solchen Kunstformen zu, bis sie später diese Unorte für Kunst institutionalisierten. Im konkretesten Falle hieß das, ein Museum oder einen Kunstverein in eine schon bestehende Struktur zu setzen, sei es ein Bahnhof, eine Fabrikhalle oder dergleichen.
Kunst ist ins öffentliche Bewußtsein übergegangen. Sie muß keine Rückzugsgefechte mehr ausführen, weil ihr dafür keine Raume mehr bleiben. Ob sie als Kunst der Dienstleistung noch Widerstandspotentiale entwickeln kann, bleibt zu fragen. Es ist eher zu befürchten, daß nach der kritischen Durchleuchtung der eigenen Verfahren im Betriebssystem Kunst als Kunst es eine betriebsbedingte Kunst gibt, die kaum noch nach Inhalten fragt, sondern nach der Erfüllung der Forderungen von Institutionen, Kuratoren und Sponsoren: nicht gegen Institutionalisierung, sondern institutionalisierte Kunst. In dieser Hinsicht berichtet Material & Wirkung auch von einer Zeit, in der Kunst noch tatsächlich Freiräume besaß, die ihr mittlerweile verloren gegangen sind. “Die Funktion von Museen und Galerien als fester Ort mit fest umschriebenen Funktionen und Grenzen ist mit dieser Kunst zuerst einmal in Frage gestellt.” Das bleibt zu beweisen.