Material & Wirkung, Katalog Kunsthaus Dresden, Juni 1998, von HARALD KUNDE

Dreispurig durchs Barockgemäuer

Wenn drei Künstler, die einander seit Jahren verbunden sind, eine Gruppenausstellung ausrichten, ist zu erwarten, daß der Gestus der Präsentation geschlossener ist als bei gemeinhin kuratierten Zusammenstellungen. Wenn noch dazu alle drei Gründungsmitglieder eines seit 1981 bestehenden Vereins sind, der seitdem als permanentes und verwaltungsfernes Forschungsprojekt die Werkläufe der Mitglieder grundiert, ist klar, daß eine Verschränkung der aktuellen Produktion mit bisher entwickelten Positionen sich anbietet und neben dem Gruppenporträt auch die Umrisse eines bewältigten Zeitvolumens sichtbar werden. Ebenso unzweifelhaft ist aber auch, daß heute jeder der Beteiligten zum künstlerischen Subjekt geworden ist und die gruppendynamische Stärkung des Anfangs nicht mehr nötig hat; daß also jeder auch der Konkurrent des anderen und Auslöser einer produktiven Spannung ist. Diese Vielzahl von Bestimmungen fand in den Gegebenheiten des Kunsthauses Dresden ihre präzise und stellenweise spektakuläre Einlösung: die Abfolge der disparaten Räume lud sowohl zu Einzelbesetzungen, zu gemeinsamen Auftritten als auch zu ortsbezogenen Interventionen und vermittelte so ein nachvollziehbares Bild der Arbeitsweise von „Material und Wirkung“.
Das begann bereits im Eingangsbereich, wo linkerhand Werner Klotz eine „Geographische und personelle Rekonstruktion des Falles Gross nach Franz Jung“ unternahm, im Kassenraum Otmar Sattel seinen „Energiestrom“ aussandte und im Korridor Eberhard Bosslet mit einer „Malerei“ überraschte, die sich als knöchelhohes Asphaltband über den Hof bis zum Hinterausgang zog und ganz nebenbei zum Laufsteg für Besucher avancierte. Hier wurden Arbeitsbereiche vorgestellt, die sowohl das jeweilige Werk der Künstler prägen als auch den Ausstellungsrundgang strukturierten und in Begegnungszonen immer wieder zu punktuellen Synthesen gelangten. Am nachdrücklichsten bezog sich dabei Eberhard Bosslet auf die vorgefundene Architektur; allein vier Arbeiten entstanden speziell für Dresden und verschafften namentlich dem Hof eine vorher ungekannte Präsenz. Denn über der schon erwähnten „Malerei“, die Bosslets Aneignung industrieller Beschichtungsverfahren respektlos in nobilitierte Bezirke verlängert, spannt sich eine gewaltige Plane in knalligem Orange, die lediglich von einer „pneumatischen Stütze“ in ihrem labilen Gleichgewicht gehalten wird. Diese Skulptur veranschaulicht modellhaft die wirkenden Kräfte, bekennt sich programmatisch zu allen Details der Konstruktion (von der Steckdose über den Kompressor bis zu den Halterungen im Mauerwerk) und erzielt dennoch eine Gesamtwirkung, die jede berechenbare Statik hinter sich läßt. Hier kommt das Material in einem wörtlichen Sinne zum Tragen; innerhalb der Werkgruppe mit pneumatischen Hebezeugen dürfte die Dresdner Arbeit einen Höhepunkt des Schwebens markieren. In farblicher Korrespondenz zur Plane setzte Bosslet weiterhin vier Pendeltüren in den Umgang; der ohnehin schmale Schlauch wurde durch die schwingenden Barrieren in seiner Passierbarkeit zusätzlich gestört und als räumliches „Nadelöhr“ körperlich erfahrbar.
Schließlich verblendete Bosslet noch eine übernagelte Falttür von Günther Uecker, die dieser während seiner Ausstellung 1996 als Arbeit vor Ort realisierte und die nun lediglich im Bewußtsein der Kundigen weiter existiert, auch die Gipskartonplatten Bosslets werden nach Ausstellungsende überstrichen und wandeln dann die Geste des Eingriffs zur Funktionalität einer Wandverkleidung. Eigentlich aber kennzeichnet gerade die umgekehrte Richtung das Bossletsche Arbeitsprinzip: industriell gefertigte Gegenstände und Materialien werden in einen zweckfreien, aber sinnreichen Zusammenhang gebracht und beginnen aus dieser Koinzidenz heraus ihr neues Dasein als Aggregate im Resonanzraum der Kunst. Evidente Beispiele hierfür liefern Arbeiten wie „Glorie“, in der zwei runde Gußformen durch die Wand hindurch eine „bilaterale Beziehung“ eingehen, die Materialpressung „Sachtleben IX“, sowie die Gruppen der Röhren- und Schlauchverbindungen „Offen II“ im Gewölbe, „Verteiler I“ im Hof und „Einleiten I“ im großen Saal). Diese Prototypen einer Skulptur aus potentieller Energie deuten Kreisläufe an, ohne noch den Augenschein des tatsächlichen Fließens, etwa von Honig in Pumpen am Arbeitsplatz, zu benötigen; ihre druckluftverschlossenen Rohre transportieren nichts, ihre Schläuche führen, nach Umwicklungen und Schleifen, zum Ausgangspunkt des Systems zurück. Hier meint das Material sich selbst und verweist zugleich auf allgemeine Ebenen eines circulus vitiosus, wie er in den Zirkulationen von Gesellschaft und Natur immer wieder waltet und als krisengeschärftes Bewußtsein längst jedes Denken dominiert.
Auch Werner Klotz bearbeitet die Konturen von Krisen, sublimiert diese aber zu Irritationen der Wahrnehmung. Im schon erwähnten Eingangsraum visualisiert er die Erfahrung des literarischen „Falles Gross“ von Ich-Zerfall und Desorientierung in einem opulenten Reflexionspanorama, das jeden davor tretenden Besucher in den Sog eines verzerrten Selbstbildes treibt und somit mittenhinein in die lauernde Irre von Gross. Die Personen und Orte von dessen Lebensreise schwimmen in gestapelten Wassergläsern und bilden einen assoziativen Erinnerungsstrom, wie er durch die Schädel aller urbanen Nomaden zieht. Weniger instrospektiv geht es dann in der Arbeit „Instrument“ zu, die, wie oft bei Klotz, eine wissenschaftsnahe Observation simuliert und den Betrachter letztlich „nur“ auf die subjektive Kontingenz seines Sehens verweist. Der Ausblick auf die nachbarliche Architektur des Kunsthauses gerät so zur Suche nach der richtigen Fokussierung, die die wassergefüllte Konstruktion immer aufs Neue in Zweifel zieht; nur der durch die Hörmuschel empfangene Geräuschpegel der Straße vergewissert den Probanden, daß er dennoch alle Sinne beisammen hat. In diesen Zusammenhang gehört ebenso das „Fernglas“, das die erhoffte Nahsicht der Weite in die Blindheit des Sehers kippt, und die „Intellektuellenfalle“, die ein Auge spiegelt und das andere ins Endlose potenziert; ein Apparat der „Fröhlichen Wissenschaft“, vergeblich und schön. Eine weitere Werkgruppe von Werner Klotz, die der kinetischen Arbeiten, ist durch ein „Perpetuum mobile“ und eine „Anemone“ vertreten. Als kreisende Konstruktionsbeschreibung, die ihre Gültigkeit durch ihr Funktionieren beweist, und als Öffnen und Schließen blütenartiger Segmente bilden die Rotationen sich aus, reflektieren dabei den bewegungsauslösenden
Betrachter, der wiederum das arbeitende System verfolgt: Interaktionen einer selbstreferentiellen Gemeinde. Nach diesen kontemplativen Momenten lädt Klotz schließlich noch zu einer imaginären Reise im Gefolge des Dionysus. Eine verspiegelte Kiste, äußerlich karg wie eine Box der Minimal Art, entfaltet im Inneren ein schwindelndes Kaleidoskop versilberter Flaschen und Gläser, die zudem ins Bodenlose gespiegelt werden. Diese Utensilien des Rausches in „Dionysus Travel Bar“, dargestellt in apollinischer Klarheit, erzeugen in ihrer Fülle ein Irrlichtern der Wahrnehmung, wie Klotz es immer wieder herbeiführt, um das Umschlagen von Sichergeglaubtem in Unwägbares vor Augen zu führen.
Unwägbarkeiten anderer Art erkundet Otmar Sattel in Versuchsanordnungen, die als offene Prozesse angelegt sind und sich innerhalb einer thematisierten Zeit umsetzen. Gärung, Verwesung und osmotische Vorgänge bilden dabei oft den Kern biochemischer Aktivitäten, die sich in raumgreifenden, industriell anmutenden Installationen eine äußere Form schaffen. So scheint der schon erwähnte „Energiestrom V“ auf den ersten Blick eine schlichte Säule, die vierkantig mit Glas verkleidet ist und von innen heraus leuchtet. Zwischen die Scheiben aber sind verschiedene Blattarten gepreßt, die mit Flächen lichtempfindlicher Emulsion wechseln und deren organische Veränderungen das energetische Zentrum der Skulptur darstellen. Auch der eindrucksvolle Raum „Das Licht II“ basiert auf diesem Prinzip: die acht auf dem Boden liegenden Industrielampen bestrahlen mit enormer Leistung gepreßte Blattarten, die sich zu Ausstellungsbeginn in verschiedenen Frischestadien befanden und am Ende alle auf ähnlich bräunliche Weise verrottet sein werden. Die durchscheinende Symmetrie der Farne, das Brummen der Dioden sowie die unter der Hitze teilweise gesprungenen Scheiben verleihen der Arbeit zusätzliche Aspekte eines spannungsgeladenen, nicht ungefährlichen Labors. Kühler geht es dagegen in den Werkgruppen zu, die über Gärungsprozesse Gase freisetzen, die ihrerseits plastische Formen als Ballone und Schläuche ausbilden. Die den Hauptsaal dominierende „Balance III“ verbindet dabei in modellhafter Weise Elemente des Sattelschen Arbeitsprinzips. Die wuchtige Statik der gestapelten Fässer und des Metallregals geraten in einen tarierten Kontrast zum ausgreifenden Gleichgewicht der nur auf einem Punkt liegenden Balancestange und zum Schweben der Ballone. Die inneren Gärprozesse bleiben unsichtbar; nur an ihrer Wirkung sind die erkundeten Eigenschaften des Materials noch zu erkennen. Gleiches gilt für das speziell für Dresden gefertigte „Seelenstück I“: der schwierige Raum eines Treppenhauses wandelt sich zum geeigneten Platz für ein Schlauchsystem, das vom Bodenfaß bis zum Haltering in sieben Meter Höhe mehrere Ballone zur Form treibt und dem „Unort“ eine Seele verleiht. Schließlich entdeckte Sattel noch den Keller für sich und veranstaltete dort eine „Bottle-Battle VII“, was namentlich zur Eröffnung ein Ereignis war, denn sowohl die Liebhaber knallender Korken kamen da auf ihre Kosten als auch die Kunstkenner, die das zur Decke spritzende Gärgemisch aus Flaschenbatterien durchaus als temporäre Skulptur zu lesen bereit waren.
Das Gemach im Erdgeschoß vereinte schließlich noch einmal alle drei Protagonisten in der auszugsweisen Dokumentation früherer Projekte per Foto und Video. Spätestens hier wurde klar, daß Arbeiten im Landschaftsraum, ungewöhnliche Ortsbesetzungen und konzeptuelle Reisetagebücher ebenso zum integralen Bestandteil von „Material und Wirkung“ gehören wie ausstellbare Artefakte. Die für Dresden getroffene Auswahl ließ all diese Aspekte aufscheinen, ohne sie episch zu zelebrieren; Kürze, Prägnanz und Lebendigkeit bestimmten den Gestus der Präsentation: dreispurig durchs Barockgemäuer.