Ernest W. Uthemann DE - Uthemann, Ernest W.: Katalog der Stadtgalerie Saarbrücken, D 2006

Die Welt als Malgrund

Ist das, was man objet trouvé nennt, wirklich ein Zufallsfund? Pablo Picasso, von dem das berühmte Wort „Ich suche nicht – ich finde!“ stammt, hat wohl tatsächlich absichtslos die Ähnlichkeit eines Spielzeugautos mit einem Pavianschädel erkannt, er hat zufällig gesehen, dass Fahrradlenker und -sattel, in einer gewissen Konstellation, an den Kopf eines Stiers erinnern. Aber Marcel Duchamps Urinoir und Flaschentrockner sind schon ganz bewusst nach dem Kriterium (ausge-)sucht worden, das Kunstpublikum mit möglichst ordinären Gegenständen zu brüskieren. Und was für Arno Schmidt seine Zettelkästen waren, das sind für zahlreiche Künstler der Gegenwart angesammelte Archive verschiedenster Dinge, die zwar im Moment der Entscheidung, sie zu horten, noch keiner Bildidee zugeordnet waren, aber ihre Einverleibung in gelegentlich immense Sammlungen zumindest einer vagen Vorstellung künftiger Brauchbarkeit verdanken, die wiederum Produkt bestimmter künstlerischer Absichten ist.
Eberhard Bosslet findet nicht, er sucht. Zwar sei unterstellt, dass der Anblick gewisser Gegenstände – wie etwa derjenige der verschiedenen Formen Dresdner Straßenlaternen, derjenige zahlreicher Autowracks auf den Kanarischen Inseln - beim Künstler Vorstellungen freisetzt, wie diese Dinge als Elemente zu verwenden wären. Doch ist dies genau schon der Punkt: Für sich allein genommen, sind solche Trouvaillen für Bosslets Zwecke ungeeignet. Erst in der Akkumulation oder der Repetition nehmen sie Gestalt an, beziehungsweise: verleiht ihnen der Künstler Gestalt. Das Wrack eines VW-Käfers auf einer Klippe über dem blauen Meer ist zweifellos ein pittoresker Anblick, den aber auch ein knipsender Tourist möglicherweise fotografisch festhalten würde. Bei Bosslet löst ein solcher Fund eine Suche aus, gefördert durch die Beobachtung. dass ein einfach in der Botanik liegen gelassenes Autowrack in dieser Gegend kein Einzelfall ist. Die beste Voraussetzung also für eine Bild-Serie! Schon der zweite derartige Fund, die zweite Fotografie verwandelt das objet trouvé in ein objet cherché. Bei den Straßenlaternen verhält es sich ähnlich: Die Vorstellung einer Akkumulation, eines „Wäldchens“ von Beleuchtungskörpern initiiert die Recherche nach allen im Stadtgebiet von Dresden aufgestellten Typen von Laternen.
Schon durch die Häufung oder die Serie findet eine Transformation der „Fundsachen“, geradezu eine „Transubstantiation“ statt. Durch eine Fotografie wird ein Ding noch nicht zwangsläufig zum ästhetischen Gegenstand, und auch einer einzelnen Straßenlaterne, im öffentlichen Raum aufgerichtet, mangelt die spezifische Qualität von Widersetzlichkeit und Umwidmung, das etwa ein Urinoir besitzt, das in einer Kunstausstellung auf einem Sockel steht. An den verschiedenen Serien, die auf den Kanarischen Inseln entstanden, an den Fotofolgen „Reformierungen“ und „Begleiterscheinungen“ oder „Vespacolor“ etwa, lässt sich Bosslets Vorgehensweise aber exemplarisch nachvollziehen. Der Künstler greift sichtbar ein, bearbeitet seine Fundstücke. Die vorgefundene architektonische und tektonische Strukturen werden vor dem Fotografieren mit Farbe konturiert; die „Begleiterscheinungen“ (1984) sind auf die Fassade leerstehender Häuser gemalte schwarze Flächen, die in Korrespondenz zu den leeren Fensterhöhlen treten. Am deutlichsten wird das Fortschreiten künstlerischer Intervention wohl in der Fotoserie „Vespacolor“ von 1982. Der ursprünglich orangefarbene Motorroller des Künstlers, zunächst einfach vor intensiv farbige Hauswände mit bunten Fensterläden und dergleichen platziert und dort fotografiert, verändert im Laufe der Serie selbst seine Farbe: Plötzlich ist er rosa oder hellblau oder auch mehrfarbig. Und zuletzt wechselt auch das Ambiente seine Farbe: Große Kakteen etwa, vor welche die Vespa gestellt wurde, erscheinen in pastelligen Tönen. Mit diesen Eingriffen in die „stationären“ Bildgegenstände (auch mit den erwähnten Konturierungen) changieren die Dinge auch von Elementen inszenierter Fotografie zu Werken im öffentlichen Raum. Und wie nebenbei findet Bosslets Selbstdefinition, nämlich ein Maler zu sein, auch bei den Fotoserien ihren sichtbaren Ausdruck. Gleichzeitig verändert sich der Charakter der Fotos: Für den Betrachter verwischt sich die Grenze zwischen inszenierter und dokumentarischer Fotografie: Sind dies eigenständige Werke, oder belegen sie vor allem eine künstlerische Aktion? Insofern ist der konzeptuelle Anteil von Bosslets Arbeiten (und das gilt grundsätzlich) ihrer sinnlich wahrnehmbaren Präsenz gleichrangig.
Die Fotoserien belegen in nuce eine in Bosslets Werk durchgängig zu beobachtende künstlerische Strategie. Der Künstler wird auf bestimmte Gegenstände wegen ihrer möglichen bildkonstitutiven Eigenschaften aufmerksam, „versucht“ diese Dinge durch gezielte Suche und Erwerb (durch Kauf, Entleihe, erlaubte und unerlaubte Nutzung) und beginnt eine Gestaltung, die aber jedenfalls die verwendeten Elemente in ihrer ursprünglichen Funktion kenntlich bleiben lässt.

Das gilt übrigens auch für jene Werke, die vor allem als „Malerei mit anderen Mitteln“ konzipiert sind, etwa für die Wandbehänge und die „Schürzen“. Zu letzteren schreibt Ellen Seifermann: „Eberhard Bosslets Bilder sind Malerei, nicht im Sinne eines strengen Gattungsbegriffs, sondern als ästhetische Praxis und Haltung. Sie basieren ebenso wie die Skulpturen und Installationen auf dem Prinzip des additiven Montierens und Komponierens schon vorhandener, technischer Mittel“.1
In einigen Werken kommt noch ein Weiteres hinzu, nämlich das Moment einer assoziativen Umdeutung der Gegenständlichkeit, ohne dass aber auch hier der originäre Zweck der verwendeten Elemente unsichtbar würde. Der „Hockerarchipel“ etwa besteht aus handelsüblichen, vom Künstler gefärbten und wie Inseln, mit der Öffnung nach unten, im Raum verteilten Kunststoff-Gartenteichen. Der Effekt ist gewissermaßen ein „surrealer“: Die Dinge verändern ihre Existenz als eindeutig definierte Objekte, sie übernehmen eine „Doppelrolle“, die sie nach mehreren Möglichkeiten rezipierbar macht – im Falle des „Hockerarchipels“ sogar mindestens nach dreien: Es sind Gartenteiche, es sind Sitzgelegenheiten, und es ist eine Inselgruppe. Und gleichzeitig natürlich haben wir es zu tun mit einem autonomen Kunstwerk, das weder über die verwendeten Materialien noch über die gegenständlichen Anmutungen oder über eine mögliche Funktion definiert ist. Auch ein Gemälde etwa ist zwar als „Ding in der Dingwelt“ durch Leinwand und Farbe bestimmbar, jedoch nicht als Kunstwerk.
Deutlich wird dieser Aspekt auch bei den „Unterstützenden Maßnahmen“ und vergleichbaren Werkgruppen. Die Funktion der Baustützen ist zwar gerade hier wesentliches Element ihrer Erscheinung, da gerade sie den Bezug zum jeweiligen Raum konstituiert. Doch der künstlerische „Mehrwert“ ist eben just in dieser Bezugnahme zu suchen, die den ursprünglichen Zweck zugleich wahrnehmbar macht und als Teil eines zweckfreien Kunstwerks seiner per definitionem festgelegten Bestimmung enthebt.
Auch hier übrigens malt Bosslet – bei den „Unterstützenden Maßnahmen“ etwa mit Licht und Schatten, bei anderen mit Elementen aus dem Baugewerbe gebildeten Skulpturen mit deren vorgefundener Farbigkeit, bei den Akkumulationen von Leuchten mit deren Licht im Raum. Hier kommt ein fast paradoxes Moment ins Spiel: So technoid ein Großteil von Bosslets Werken anmutet, so zahlreich in ihnen die industriell gefertigten „Bauteile“ sind, so wenig steht eine technische Faktur im Vordergrund, die für die objets trouvés bei DADA oder in der Pop Art immer wichtig blieb. Andererseits fehlt die auf kühle Nachvollziehbarkeit zielende Entpersönlichung etwa der klassischen Konkreten Kunst. Und auch dies hat wiederum damit zu tun, dass Bosslet im Grunde immer ein Maler bleibt, selbst dort, wo er nicht Farbe auf eine Fläche aufträgt. Denn seine Arbeiten sind stets Bilder, sind räumlich expandierende Zeichnungen oder Gemälde, deren Gestalt, deren „Bildträger“ zwar zunächst überraschen mögen, dann aber beim Betrachter die Erkenntnis dämmern lassen, dass das Ideal jeder Malerei wohl seit je gewesen ist, die Welt zum Malgrund zu machen. Und objets trouvés, objets cherchés sind in diesem Sinne Dinge, die zunächst nur dazu zu dienen scheinen, die Wirklichkeit der Welt ins Bild zu holen, aber dann doch zumindest gleichermaßen aufzufassen sind als Projektionsflächen, auf denen die Bilder aufscheinen, die man sich von der Welt macht.

Ernest W. Uthemann