De- Findeisen, Ralf; Schrott und Sonne 1982-2009, CD-ROM Werkarchiv Bosslet, 2012

Der Text wurde geschrieben für den Katalog der geplanten Einzelausstellungen auf Teneriffa, Gran Canaria und Fuerteventura 2009, die wegen der beginnenden Wirtschaftskriese Spaniens abgesagt wurden. Der Katalog wurde nicht gedruckt.

SCHROTT UND SONNE (1982)

Die leere Karosse eines von seinem Innenleben befreiten VW-Käfer, als objet trouvé in waaghalsiger Balance auf einem erdigen Vorsprung, Land Art wider Willen, umrahmt von Pinien, Gräsern und Buschwerk, dahinter der „sakrale“ Raum der Subtropen, ein Abgrund hinunter zu den grünen Terrassen, wo der schwarze Saum der Ufer Teneriffas als Klebestelle zwischen der insularen Landmasse und der endlosen Geste des Atlantischen Ozeans die Wahrnehmung figuriert, gegen die Sonne belichtet, daher der trichterförmige Lichtschimmer, die Öffnung hinter dem Industrieschrott, dem importierten Opus des Verkehrs, gebraucht und nun abgelegt in der Landschaft, vor sich hin sterbend, seinem Verschwinden entgegen rostend, vom Fetisch des Künstlichen zum Fetisch des Natürlichen – die fotografischen Liaisons, inzwischen weit über hundert, die Eberhard Bosslet seit 1982 auf den Kanarischen Inseln mit den Überbleibseln ehemals funktionstüchtiger Mobile eingegangen ist, geben Anlass zu einem Ordnungsversuch über die Verstrickungen, die diese Grablegung im „Postkarten“-Format begleiten.


Die erste Sequenz entsteht im Nachhall der Siebziger, die vorerst letzte auf der Höhe der Immaterialisation der Geografie in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends. Man muss diesen historischen Bogen noch einmal nachvollziehen, um zu verstehen, mit welch profaner Ungeheuerlichkeit der Gegenstand eines mal ausgebrannten, mal zerlegten Automobils seinen Anteil am Visuellen zu behaupten versucht. Zwischen dem ersten und dem letzten Schnappschuss dämmert die Totale der Globalisierung herauf, der Paradigmenwechsel vom analogen Realismus zum Gebrauch digitaler Simulationsstrategien führt zum Untergang des Realen, nunmehr herrscht ein Verwirrspiel von Realem und Virtuellem, das Imaginäre bespielt sich selbst ohne Referenzbezug, ohne die dritte Komponente der Tiefe, als Geflecht auf binären Flächen. Alles hat sich in sein Gegenteil verkehrt: Das Reale dient nicht mehr als Gegenstand, um das Imaginäre zu befeuern, jetzt dient jede Form der Simulation dazu, um virtuell zum Realen zurückzukehren, wenigstens oder nur mehr auf der Ebene der Erfindung.


Ende der 70er, Anfang der 80er spricht man noch von Abbildern. Der drohende Verlust der ersten Natur ist als post-aufklärerische Nachwehe und vor dem Siegeszug der digitalen Deterritorialisierung durchaus noch ein Thema. Das Thema des Mülls und der nuklearen Verstrahlung hat sich inzwischen im eurozentristischen Kulturkreis dauerhaft etabliert. Die Inflation der Ferne, der Distanz und der Intimität ist noch nicht zur vollen Blüte gelangt. Was bedeutet es, zu diesem Zeitpunkt in Berlin das Flugzeug zu besteigen, binnen weniger Stunden mehrere tausend Kilometer zu überbrücken und anschließend, mit einer analogen Kamera ausgestattet, mehrere Monate lang durch die Areale südlicher Vulkangefilde zu streifen, um die „Leichen“ der Mobilisierung abzulichten, deren wahren Ausmaße den Kanaren im Zuge des Massentourismus und der infrastrukturellen Anbindung an das spanische / europäische Festland erst noch bevorstehen? Handelt es sich hierbei um eine Narration der ersten Natur? Oder um eine Zivilisationskritik, d. h. die Narration der Inkludierung der zweiten Natur in die erste? Und welche Figur bedient der Fotograf? Ist er der legitime Wanderer? Der Gesellschaftskritiker und Wächter? Ein Tourist? Exot? Dokumentarist? Und was bedeutet es jetzt, einen Blick darauf zu werfen?


Schnell wird ersichtlich, was alles auf dem Prüfstand steht: Der Wert der Fotografien, ihre virtuelle Daseinsberechtigung, die Sujets, die Machart. Vieles scheint von diesem Vierteljahrhundert verschluckt worden zu sein. Das ist der eigentliche Punkt. Offenbar es geht nicht so sehr darum, die Reste des VW-Käfer und all die anderen desolaten Karossen nach ihren womöglich geheimen Einschlüssen zu untersuchen, die auf den ersten Blick verborgen geblieben sind. Die Vermutung ist sogar erlaubt, dass es diese geheimen Einschlüsse überhaupt nicht gibt. Abgesehen von den Biographien der Fahrzeughalter und den mehr oder weniger ominösen Umständen, unter denen der Schrott auf einer Klippe, auf einer Halte oder im Nirgendwo einer Ebene gelandet sind, die bei der Erstellung der Serie SCHROTT UND SONNE nie von Interesse waren; was nicht heißt, dass sie nicht von Interesse sein könnten.


Erstmals nach Teneriffa reist Bosslet ein Jahr zuvor, im Jahr 1981. Es ist das klassische Motiv des Europäers, der nördlich der Alpen sein Zuhause hat und auf Wanderschaft in den Süden geht, um Abstand zu gewinnen. Abstand von der Enge des Selbst, der Beschränktheit des Ausblicks – und vom kalten deutschen Winter. Eigentlich will er hinsichtlich der künstlerischen Produktion eine Pause einlegen. Im selben Jahr ist er Gründungsmitglied der Berliner Künstlergruppe „Material und Wirkung e. V.“ Motivisch geleitet wird die Arbeit der Gruppe durch grundsätzliche Zweifel an traditionellen Kunstmotiven und Verfahrensweisen, was speziell für Bosslet bedeutet, seine Beziehung zur Malerei vom Typ „colorfield painting“ aufzuweichen. Im Gepäck hat er das, was man Aufmerksamkeitskultur nennt. Der Hunger ist beträchtlich, um nicht zu sagen gefräßig. Materialien und deren Wirkung – es gibt im Grunde nichts, was dem Blick dieses Reisenden entgehen soll.


Verbunden mit dem Agens der Bewegung im Freien ist das Verlassen des Studios, des Ateliers, der abgeschlossenen Räume der Produktion wie auch Repräsentation. Beinahe ist darin eine Wiederholung der Motorik der Schule von Fontainebleau zu erkennen. Nur ist es diesmal nicht darum getan, als bürgerliches Subjekt, das von der Diktion Gottes entbunden ist, die Schönheit der Natur zu kopieren. Gleichwohl bleibt die Schönheit der Natur nicht außen vor. Sie ist angenehmer Teil dessen, was als Begriff nicht vordergründig auftaucht, doch was als Terminus das veränderte Kunstverständnis Bosslets Anfang der 80er zum Ausdruck bringt, auch vielleicht als Gegenpart zum Wiederaufleben des Geniebegriffes und einer Neo-Bohéme mit den Neuen Wilden – die Feldforschung.


Damit nimmt eine Behauptung der Kunst seinen Anfang, wonach – mit Bosslet und dessen argumentativen Rückgriff auf einen 2006 von Henk Borgdorff publizierten Text The Debate on Research in the Arts – Forschungen in der Kunst immanent und performativ sind. Eine Subjekt-Objekt-Trennung ist diesem theoretischen Grundriss zufolge obsolet ebenso wie eine strikte Trennung von Theorie und Praxis. Der Grund für diesen „Schachzug“ ist einleuchtend: Es ist der Versuch der produktiven Kunst, sich aus dem „Würgegriff“ der Ästhetik zu befreien. Kunst ist Teil einer hybriden Wissensbildung und befindet sich in Konkurrenz zu reinen Theorie, die an logischer Evidenz interessiert ist. Bosslets Statement hierzu lautet: „Die Medialität der Kunst darf nicht zugunsten eines Ergebnisses, einer vom Medium isolierbaren Information verschwinden.“ Tatsächlich ist es wohl der utopische Fokus des ästhetischen Diskurses, die Medialität oder genauer die reine Visualisierung vollständig im beweisführenden Text aufgehen zu lassen.


Auf Teneriffa im Jahr 1982 befindet sich Bosslet jenseits dieses „Würgegriffes“. Tatsächlich treffen die meisten Attribute auf ihn zu. Er fährt wandernd auf einem Moped umher mit touristischem Genießen und findet Autowracks. Sie ins Bild zu holen, dem Schrott Aufmerksamkeit zu schenken und ihren vermeintlichen Nichtwert in einen für den nachfolgenden theoretischen und den Kunstmark relevanten Wert zu verwandeln, macht ihn für die Einheimischen zu einem Exoten, der eine Initialzündung für das grüne Bewusstsein der Insulaner herstellt. Mehr noch wird eine Ästhetisierung des auf sich selbst gerichteten Blickes mobilisiert, der über die Folkloreregeln hinausgeht. Wenn man so will, fungiert Bosslet als Trojaner und Coach, der sich in die (fremde) Kultur einschmuggelt, um ein Störmanöver auszuführen, das wiederum der einheimischen Kultur nach Möglichkeit dazu dient, die eigenen Regeln neu zu definieren – so zur Ausbildung eines möglichen ökologischen Bewusstseins oder eines denkendes Verhältnis zur Alltagsgeschwindigkeit.


Mit diesen politischen Effekten, die sich so selbstverständlich einstellen wie die gute Laune fortfährt, die Autowracks entweder dokumentarisch festzuhalten oder bei einigen wenigen zusätzlich ein farbiges Strukturgeflecht aufzutragen, geht für Bosslet der formal-spielerische Habitus einher, nicht als Politiker oder Kulturbotschafter unterwegs zu sein. Das ist in der Behandlung von SCHROTT UND SONNE von maßgeblicher Bedeutung, sowie auch für die nahezu zur selben Zeit entstandene Serie INTERVENTIONEN. Geraten die ausrangierten Automobile meistenteils in ihrer „Echtheit“ in den Blickpunkt, werden bei den INTERVENTIONEN ruinöse Gebäude mit Farblinien- und flächen erweitert, sodass sie erst eigentlich wieder sichtbar werden.


Mag sein, dass im Hinterkopf Bosslets Bezüge zu Malewitschs quasi-monochromer Malerei eine Rolle spielen, oder dass einzelne Flächen und Balken in seinem Verständnis den Blick zensieren, also mit der Hervorhebung zugleich auch Kontrolle evozieren. Merklicher im Resultat ist, dass nicht nur die Malerei oder die Kunst am Beispiel der Arbeiten auf den Kanaren das Studio verlassen, sondern dass der Produzent mit seinem formalen Eingriff in die landschaftliche Vermischung aus Zivilisationsresten und natürlicher Umgebung förmlich hinter die Landschaft zurücktritt. Zwar hat Bosslet nie den Begriff der Land Art in diesem Zusammenhang für sich verwendet, doch entfaltet sich eine Art geo-semantischer Sprache, die mit einer Annäherung ans Archaische zu Werke geht, wie es ihr im White Cube nie gelingen würde. Auch wenn die nachfolgende Präsentation abermals Eingang in den White Cube und in die übliche Verfahrensweise der Kataloge findet, so steht die Behauptung dieses Zeitfensters gegen die Vernichtung durch das Verwirrspiel von erloschenem Realen und monströsem Virtuellen.


Die Annäherung an das Archaische als Ausdruck der noch nicht und vielleicht niemals von irgend einem Text eingefangenen „Mikrologien“ und „pluralen Ordnungen des Wissens“, zumal im Spiegel der Entwertungsstrategien des Realen, wonach weder ein Autowrack noch eine Klippe noch eine abseitige Ruine eine Erwähnung wert wäre, weil sie aus dem Repräsentationsrahmen der universellen Simulation herausfielen, das ist das Skandalon schlechthin.


Das erstreckt sich nicht minder auf den poetischen Gehalt der Fotos. Sind sie legitim? Sind sie nicht legitim? Der ästhetische Diskurs würde alle Anstrengungen unternehmen, die Poesie abzutragen, um den informativen Gehalt übrig zu lassen, der sich aller Voraussicht nach darin erschöpfen würde, immer wieder zu sagen, dass die Poesie tot ist, dass man längst Gründe genug hat, ihr zu misstrauen, dass darin alles zu nett aussieht, und dass die Wahrheit viel grausamer ist. In der Tat wäre das Bestehen auf einer Humboldtschen Unbefangenheit ein generöser Trugschluss. Aber etwas von dieser Unbefangenheit muss bleiben. In dieser Hinsicht besteht zwischen 1982 und 2009 kaum ein Unterschied.