Best of Ruhrgebiet III
Der gewanderte Künstler

Uwe Rüth Zur Ausstellung

Der bekannte Filmregisseur Sönke Wortmann (geb. 1959 in Marl) wurde in einer Kultursendung im Fernsehen1 gefragt: „Können Sie sich in Zukunft vorstellen, keine Filme mehr im und über das Ruhrgebiet zu machen?“ Nach kurzer Überlegung war seine knappe Antwort: „Nein!“. Obwohl Wortmann seit 1983 in München lebt, ist seine Beziehung zum Ruhrgebiet eine feste Komponente in seinem ansonsten durchaus vielschichtigen Werk. Auch wenn er, wie er meinte, versucht, den üblichen Klischees des Ruhrpotts auszuweichen, kann er es nicht ganz: War der Fußball - ähnlich wie die Taubenzucht ein immer wieder stereotypes und oberflächlich hervorgehobenes Charaktermerkmal der Region - doch seine große, durchaus auch erfolgreiche Leidenschaft, wie er immer wieder betont: Ruhrgebiet und Klischee sind halt eng verbunden.- Die dritte Ausstellung zum Thema „Best of Ruhrgebiet“ in der Essener Galerie Frank Schlag zeigt, im Gegensatz zu den ersten beiden Ausstellungen zu diesem Thema, Werke von zwanzig Künstlern2, die im Ruhrgebiet geboren, aufgewachsen oder eine beträchtliche Zeit hier gewohnt und gearbeitet, aber schon seit längerem aus unterschiedlichen Gründen die Region verlassen haben. Es handelt sich bei all diesen Künstlern um international renommierte Vertreter unterschiedlicher Gattungen (Bildhauer, Maler, Klangkünstler, Installationskünstler, Zeichner und Fotografen), deren künstlerische Qualität außer Zweifel steht. Die zwischen 1933 und 1978 geborenen Künstler kommen aus zwei Generationen von Nachkriegsschaffenden, die die ganze Entwicklung des Ruhrgebiets, vom rauchig-rußigen Industriegebiet der „1000 Feuer über der Ruhr“ über den von den Politikern versprochenen „blauen Himmel über der Ruhr“ bis zur heutigen Ästhetisierung der Landschaft und Rekultivierung der Industriegebiete, als Insider und von außen miterlebt haben. Warum aber zeigt man die Werke dieser Künstler? Will man sie, die häufig ihre relevanten und besten Arbeiten lange nach dem direkten Ruhrgebiets-Bezug gemacht haben, vereinnahmen und so ein (falsches) künstlerisches Renommee für die Region aufbauen? Nein: Ein Ziel dieser Präsentation ist es, dem Künstlernachwuchs hierdurch das Selbstbewusstsein zu geben, dass in dieser, von vielen noch als künstlerisch nicht bedeutend empfundenen Region durchaus Potenz enthalten ist, die zu Wichtigem führen kann. Es soll ein Selbstbewusstsein geweckt werden, das, jenseits jeglicher Selbstüberschätzung und Überheblichkeit, mit Energie und Zielstrebigkeit, eine qualitätsvolle Entwicklung gewährleistet. Das Kunstgebiet an der Ruhr Die historische Entwicklung der ‚Kunstregion Ruhrgebiet‘ setzte nach 1840 ein. Hierbei kam der Einfluss durch die Industrialisierung von außen und aus der oberen Schicht der sozialen Hierarchie: Auch wenn schon 1853 in Dortmund mit der Galerie Utermann die erste Kunstgalerie gegründet wurde3, war dies nur ein erster, kleiner Schritt. Erst als die ‚Industriebarone‘ begannen, Kunst als repräsentatives und zeigenswertes Gut in die Ausschmückung ihrer Gebäude und Räume einzubeziehen, wurde deren Wert langsam entscheidend wahrgenommen. So integrierte der Berliner „Eisenbahnkönig“ Bethe Henry Strousberg 1868 Werke seiner bedeutenden Kunstsammlung aus Berlin in seine großzügigen Empfangsräume der ‚Dortmunder Hütte‘, was in der damals kunstarmen Region für große Aufmerksamkeit sorgte.4 Nur ein Jahr später baute Alfred Krupp die Villa Hügel in Essen, ein schlossartiges Gebäude mit großer Parkanlage, und veredelte das Innere mit vielen prächtigen künstlerischen Werken. So stieg das Bewusstsein für den geistigen und repräsentativen Wert von Kunst langsam auch in den bürgerlichen Kreisen. Dass der 1875 in Mülheim geborene Heinrich Thyssen-Bornemisza ab 1911 eine der wichtigsten Kunstsammlungen der Welt durch sein im Ruhrgebiet verdientes Geld aufbaute, ist wohl auch auf diesem Hintergrund zu sehen: Die heute in Madrid aufwändig präsentierte Sammlung ist nie im Ruhrgebiet gezeigt worden. Hingegen hat Karl Ernst Osthaus, Erbe eines großen Vermögens, seit 1898 seine auf „Bildung des Menschen“ ausgerichtete Sammlung und seine Tätigkeit als Kunst-Mäzen zu einer einflussreichen und bedeutenden Kunstinitiative (‚Der Hagener Impuls‘) in Hagen und in der Region ausgebaut. Er gründete 1902 das erste Museum für zeitgenössische Kunst der Welt, das auch nach dem Verkauf 1922 nach Essen seinen entscheidenden Einfluss auf die Kunst im Ruhrgebiet bis heute behielt. Parallel zu diesen ‚großen‘ Initiativen gab es viele kleinere, die das kulturelle Leben im Ruhrland erweiterten und intensivierten. Grob kann man die Entwicklung der Kunst im Revier von damals bis heute folgendermaßen skizzieren: 1850 – 1914 Zeit der künstlerischen Intervention durch die privaten Initiativen der ‚Industriebarone‘, teilweise auch schon aus sozialen Motiven 1918 – 1933 Starke künstlerische Aktivitäten auf dem Hintergrund der sozialen Fragen der Zeit5 1933 – 1945 NS Gleichschaltung der Kunst 1945-1989 Künstler versuchen das Ruhrgebiet durch Kunst menschlicher zu gestalten (Junger Westen, Werner Graeff, B1-Gruppe, Symposion Zeche Carl u.a.)6 1989-2010 Internationale Bauausstellung IBA und Kulturhauptstadt Europa, Essen und das Ruhrgebiet: Die ästhetische Überformung des Ruhrgebiets im Zuge des Strukturwandels 2010 und folgende Es bilden sich künstlerische Netzwerke von Museen und Kunstvereinen, Urbane Künste Ruhr (Initiative für besondere kreative künstlerische Aktivitäten in den Städten und im öffentlichen Raum), Emscher Kunst u.v.a.; hier setzt die ‚Normalisierung‘ der Kunst durch große und kleinere Projekte ein: Das Ruhrgebiet gleicht sich in den künstlerischen Aktivitäten stark den allgemeinen Entwicklungen an, wobei die Kunst in öffentlichen Bereichen nach wie vor ein Schwergewicht bildet Kunstlandschaft Ruhrgebiet Auf diesem Hintergrund lässt sich in der Zeit von 1850 bis 2010 von einer recht ungewöhnlichen eigenständigen Kunstlandschaft Ruhrgebiet sprechen.7 In dieser Epoche der hektischen und rasanten Entwicklung unterschiedlicher Industriezweige (Kohle, Stahl, Chemie) erfuhr die bis dahin durch Wälder und landwirtschaftlich genutzte Flächen gekennzeichnete Landschaft an Lippe und Ruhr einen tiefgehenden und grundsätzlichen Wandel: Es wurde fürwahr das Unterste nach oben gefördert. Landschaft wurde zerstört, riesige Industrieanlagen – vor allem Zechen, Stahlwerke und große Chemiebetriebe -, Abraum- und Kohlehalden, schwarzer Rauch und Feuer aus Schloten überformten das ehemalige Kulturland. Natürlich gab es auch noch grüne Gebiete unter der Dunstglocke. Besonders an den Flussläufen, in den sich schnell ausweitenden Arbeitergärten hinter den Häusern und in den Schrebergärten manifestierte sich der Drang der Menschen nach Natur und Erholung. Aus vielen Gegenden Europas strömten Arbeitssuchende in das boomende neue Wirtschaftsgebiet. Der Mensch wurde zum abhängigen Teil der ökonomisch-technischen Gesamtentwicklung. In diesem Konglomerat an industrieller Neujustierung der Umwelt- und unübersichtlichen Sozialbedingungen formte sich notgedrungen eine eigene Kultur. Als eine ehrliche bildnerische und schriftstellerische Dokumentation der Situation zum Zeitpunkt des Höhepunkts der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg gilt das von dem Kölner Fotografen Chargesheimer (Carl-Heinz Hargesheimer) und dem Nobelpreisträger Heinrich Böll 1958 herausgegebene Buch „Im Ruhrgebiet“.8 Chargesheimer fasst das Ziel seiner fotografischen Recherchen mit folgenden Worten zusammen: „Ich will ihnen die Welt zeigen, wie sie ist, unsere Welt in all ihrer Härte, ihrer Fremdheit, ihrer Heiterkeit und in ihrer Schönheit, ja in ihrer Schönheit.“ Heinrich Böll meinte deutlicher aber treffend: „…man schuf ‚Industrielandschaft‘, doch dieser Begriff, der so nüchtern klingt, ist nur die romantische Verbrämung der Tatsache, daß die Industrie hier die Landschaft getötet hat, ohne eine neue zu bilden.“ Er setzt aber hinzu: „Und doch leben nirgendwo in Deutschland so viele Menschen auf so engem Raum, sind die Menschen nirgendwo unpathetischer, einfacher und herzlicher.“9 Dass sich in dieser Situation, wie schon kurz angedeutet, auch auf dem Gebiet der bildenden Kunst Eigenständiges für die Region entwickelte, war zwangsläufig. Werner Graeffs 1952 vorgetragene Forderung nach der „Künstlerischen Gestaltung des Ruhrlandes“10 ist wohl die einfachste und prägnanteste Äußerung in diesem Sinne gewesen. Der ‚Bauhäusler‘ erkannte die Notwendigkeit einer sinnlichen Humanisierung der Landschaft und setzte damit Zeichen für die Zukunft. Diese eigene ‚Kunstlandschaft‘ war Hintergrund der ersten beiden Ausstellungen von ‚Best of Ruhrgebiet‘. In der Ausstellung hier liegt der Fall aber komplizierter. Es handelt sich ja um Künstler, die das Ruhrgebiet – aus welchen Gründen auch immer – verlassen haben. Zwar haben fast alle von ihnen die prägenden Momente des Ruhrgebiets als Kind, Heranwachsende oder hier länger Schaffende erfahren, haben diesen Einfluss jedoch hinter sich gelassen, wohl sicher aber nicht die Erinnerungen an ihre Erfahrungen und Erlebnisse. Der ‚mobile‘ Künstler Die Mobilität des Menschen und damit auch des Künstlers hat besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus vielen Gründen deutlich zugenommen. Der „Wanderkünstler“11, wie sich die Kunstgeschichte besonders des 19. Jahrhunderts den von Stadt zu Stadt und Land zu Land ziehenden Künstler vorstellte, ist zur äußersten Seltenheit geworden. Heute sind die Gründe in andere Länder, Regionen oder Städte zu ziehen vielfältig und äußerst unterschiedlich: Es treibt sie die Neugierde, die durch die neuen Kommunikationswege, Informations- und Reisemöglichkeiten angeregt wird. Private Bindungen und Gründe, Ausbildungs- und Studiensituation, Arbeitsmöglichkeiten u.v.m. zwingen häufig zum Standortwechsel, der neue Regionen zum Mittelpunkt des Lebens macht. Der Einfluss ‚von außen‘ auf den Menschen der letzten Jahrzehnte ist breit gefächert und unüberschaubar geworden, die Notwendigkeit zum Wohnortwechsel ist mitunter ungewollt aber durchaus freiwillig – mit großer Neugierde auf das Andere, Fremde da draußen. Und doch nimmt der ‚Auswanderer‘ Grundsätzliches mit auf die Reise. Wir wissen heute, dass der Mensch in seiner psychischen Entwicklung geprägt wird durch: 1) die pränatale Phase 2) Erlebnisse und Erfahrungen als Kleinkind und Jugendlicher 3) die genetischen Anlagen. So kann man annehmen, dass jede Umweltsituation in die das Kind hineingeboren wird und in der es aufwächst, indirekt seine Persönlichkeit mit prägt: „Das Gedächtnis wären dann all die vielen Spuren, die sich als Folge der Interaktion eines Lebewesens mit der äußeren Welt in seine Struktur und seine innere Organisation eingegraben haben. So betrachtet hat jede Zelle, jedes Organ, jedes Individuum, ja sogar jede Lebensgemeinschaft ihr eigenes, durch die jeweiligen bisher gemachten Erfahrungen herausgeformtes Gedächtnis.“12 Es gibt aber Umweltsituationen, deren außergewöhnliche und extreme Bedingungen besonders nachhaltig auf Kleinkind und Heranwachsenden sowie auf den sie länger Erfahrenden einwirken. Ich behaupte, dass die extreme industrielle Situation des Ruhrgebiets und die hier erfolgte Sozialisation der Menschen eine solche besondere Umwelt darstellte, die die ‚inneren Bilder‘ des Menschen entscheidend mit geformt hat, und erst recht die der sensiblen Künstlermenschen. Es geht also bei dieser Ausstellung um den Versuch zu ergründen, welche Erfahrungswerte sich in inneren Bildern bei den hier berücksichtigten Künstlern durch ihr Leben im Ruhrgebiet widerspiegeln und ob eine solche Umwelt als Erfahrungs- und Erlebnismomente in der Persönlichkeitsstruktur der Künstler zu erkennen ist – bei den individuellen Personen oder gar in den künstlerischen Werken. Die Künstler der Ausstellung Die Altersstruktur der an der Ausstellung ‚Best of Ruhrgebiet III‘ beteiligten Künstler erstreckt sich vom Geburtsjahr 1933 des ältesten (Rolf Jörres) bis zum Jahr 1978 des jüngsten (Julius Stahl) über 45 Jahre, was gut zwei Generationen entspricht. Von den 21 Künstlern13 sind 8 in den Jahren von 1933 bis 1944 geboren, 11 zwischen 1950 und 1960 und zwei in den 70ern. So kann also angenommen werden, dass die ältere Gruppe das Ruhrgebiet in seiner ganzen Herbheit der 50er und 60er Jahre erlebt hat, die mittleren Jahrgänge zu der Generation gehören, die den Niedergang und den Strukturwandel verfolgte und die beiden Jüngeren (Gereon Krebber und Julius Stahl) sich „nur“ noch an die Phase des Strukturwandels erinnern. Die Künstler leben bis auf einen14 nicht mehr im Ruhrgebiet. 16 von ihnen sind im Ruhrgebiet geboren. Mario Reis kam vor seinem 10. Lebensjahr ins Ruhrgebiet, Felix Droese mit 16 nach Essen und drei der Künstler (Timm Rautert 1966 mit 25, Joachim Brohm 1983 mit 28 und der damals 31jährige Eberhard Bosslet 1984) zogen als junge Erwachsene hierhin. Dabei erscheint es interessant, dass zwei von diesen zum Studium an die Folkwang Hochschule kamen, um dort bei Otto Steinert Fotografie zu studieren. Deutet es doch an, dass der als Fotograf bekannte Steinert als Magnet auch außerhalb des Ruhrgebiets wirkte. Eberhard Bosslet wiederum blieb nach seinem Stipendiat am Lehmbruck Museum in Duisburg, weil ihm der damalige Kulturdezernent ein Atelier in einer großen Werkhalle besorgte: Beide Motive ins Ruhrgebiet zu kommen, mögen für die hiesigen Kulturpolitiker Zeichen sein, wie man Künstler für die Region gewinnen kann. Obwohl in Werkhallen sicher beste Ateliermöglichkeiten bestehen, hat sich auf diesem Gebiet wenig getan. Vier Künstler zogen schon vor dem 10ten Lebensjahr aus dem Ruhrgebiet weg (Maik und Dirk Löbbert, Holger Bunk, Julius Stahl). Die heutigen Wohnsitze der 21 Künstler sind weit gestreut: Ein Künstler wohnt (zeitweise noch) im Ruhrgebiet, zwei in Düsseldorf, vier in Köln, also in den nahgelegenen Kunst-Metropolen, sechs im übrigen NRW, fünf weitere in Deutschland außerhalb NRWs und drei im Ausland. Die Motive der Künstler, das Ruhrgebiet wieder zu verlassen, waren natürlich unterschiedlich, wobei die besseren künstlerischen Entwicklungsmöglichkeiten - Studium und akademische Laufbahn inbegriffen - sicher die häufigsten Gründe gewesen sind. Die Künstler der Ausstellung - Persönliches Viele intensive Gespräche mit Künstlern der Ausstellung haben mir einen Blick gewährt in innere und recht persönliche Verbindungen der Künstler mit dem Ruhrgebiet. Es ging hierbei nicht um Fragen nach ‚Heimat‘ oder ‚Identifikation‘, sondern um die individuellen Erfahrungen während des Lebens im Revier, die zu bleibenden Strukturen im psychischen Befinden der Befragten geführt haben und die eher unbewusste Wirkungen auf den Menschen und vielleicht auch auf das künstlerische Werk zeigen. Mir ist sehr klar, dass hieraus keine gültigen Schlüsse allgemeiner Art gezogen werden können. Eins hat mich aber überrascht: Hatte ich angenommen, dass die Künstler sich nur sehr verhalten zu diesem Komplex äußern würden, so wurde ich schnell eines Besseren belehrt: Nach anfänglicher Vorsicht öffneten sich die Angesprochenen schnell und gaben bereitwillig und ohne Scheu Auskunft. Die Gespräche verliefen alle in einer äußerst angenehmen und engagierten Form, wobei der Fluss der Erinnerungen stetig anzuschwellen schien – so kam durchaus manch ‚Vergrabenes‘ zum Vorschein. Den Künstlern danke ich sehr für ihre Bereitschaft und Offenheit, die mir deutlich gezeigt haben, dass wir mit der Ausstellung für sie genau richtig liegen. Obwohl auf bestimmten Feldern eine große Übereinstimmung bei den Erfahrungen zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen zu finden ist, bleibt doch eine deutliche ‚atmosphärische‘ Verschiebung zu verspüren. So sind bei fast allen Befragten die sozialen Verhältnisse und das menschliche Interagieren des Ruhrgebietlers ein gemeinsames Moment des positiven Erlebens. Besonders die im so harten und grauen Alltag der Industrieregion immer aufs Neue erfahrene Herzlichkeit und Toleranz der Menschen sowie deren schnörkellose Direktheit und Offenheit sind jenseits jeglicher Klischees Erfahrungen, die auf das eigene Wesen der Befragten Einfluss genommen haben. In der älteren Gruppe der von 1933 bis 1945 Geborenen bildet dieses Moment die eigentliche tiefgehende innere Verbindung zum Revier. Wobei hinzukommt, dass bei ihnen häufig traumatisch wirkende Kriegsereignisse von Bombardierung und Bunkeraufenthalten, Zerstörung und Chaos das Erleben des solidarischen Zusammenhalts der Gesellschaft im Ruhrgebiet besonders geprägt haben. Waren die gegenseitige Unterstützung und Hilfe durch die arbeitsmäßige und soziale Situation schon immer selbstverständlich und besonders intensiv, so erwiesen sich diese unter den Kriegs- und Nachkriegsbedingungen besonders eindringlich. Die Generation danach (von 1950 bis 1960 Geborene) hat neben dem Erlebnis des engen Miteinanders im unmittelbaren sozialen Netz besondere Eindrücke unterschiedlicher Art geschildert, die sich aus dem Verhältnis als Kind oder Jugendlicher zu den Altersgenossen „auf der Straße“ ergeben haben. Der herbe und mitunter sogar harte Umgang miteinander, das ‚Verfolgen‘ und ‚Unterbuttern‘ des anderen im täglichen Raufen, das wilde und freie Leben in leerstehenden Werkhallen und auf landschaftlichen Brachen scheint die Sozialisation dieser Gruppe stark beeinflusst zu haben. Die in der Hochzeit des Reviers nach dem zweiten Weltkrieg aufgewachsenen Künstler wirken in ihren Berichten wie zwischen zwei Epochen lebend: Zwischen der vorhergehenden unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegszeit und der später folgenden Zeit der Zechenschließungen und des Strukturwandels. Die beiden Jüngsten der Künstler erlebten das Ruhrgebiet in der letzten Phase des Strukturwandels und der Rekultivierung. Ihr Blick ist ausgeglichener und weniger pathetisch: Zwar betonen auch sie, dass die Ruhrgebietsmentalität ihrem Naturell eng verbunden ist und bleibt, aber die Entwicklung des Reviers scheint für sie eher aus einer engagierten Distanz als aus einer direkten Emotion heraus beurteilt zu werden. Was nun den Einfluss der industriellen und sozialen Umwelt auf das Werk der hier befragten Künstler betrifft, so ist dieser häufig nicht wirklich nachzuverfolgen. Heinz-Günter Prager ist Stahlbildhauer. Es ist aber zu simpel dies darauf zurückzuführen, dass Stahlwerke als wesentlicher Teil zum Ruhrgebiet gehören: Auch der Bayer Alf Lechner hat ähnlich intensiv wie Prager den Stahl bearbeitet. Dennoch scheinen die Älteren indirekt durchaus bestimmte Aspekte in ihre Kunst – unbewusst und verborgen - aufgenommen zu haben: So betont Rolf Jörres zum Beispiel seine enge Beziehung zum ‚Berg‘, zur Erde aus dem Erlebnis der Bergwerke und des „Grabens unter Tage“, und er vermutet hier eine Verbindung zum Stein, der sein Werk ja entscheidend prägt. Ewerdt Hilgemann hingegen begründet sein intensives Engagement für das Ruhrgebiet, das durch seine organisatorische Arbeit in der Künstlersiedlung Halfmannshof in Gelsenkirchen und in der Künstlergruppe B1 auch formal offensichtlich ist, mit der unmittelbaren Identifikation mit der Region an der Ruhr. Nachdem jedoch die B1 Erfahrungen künstlerisch so enttäuschend für ihn verlaufen sind, hat er sich aus dieser Abhängigkeit gelöst und ging nach Holland. Trotzdem endete unser Gespräch mit seiner Bemerkung: „Das Ruhrgebiet ist in meinen Genen.“ Einige aus der Gruppe der zwischen 1950 und 1960 geborenen Künstler sind bei der Beurteilung schon eindeutiger. So erkennt Christa Feuerberg in ihren Bleiarbeiten unmittelbare Verbindungen zu ihrer schwierigen Sozialisation als Jugendliche im Revier. „Es ist dies der Wunsch nach Häutung, wenn ich mit dem Blei arbeite…Zusammen mit dem Lichtspiel, das eher beruhigend auf der Oberfläche spielt, ruft es wieder und wieder die alte Spannung wach, die meine Kindheit entscheidend geprägt hat…Heute sind es lang ‚strapazierte‘, gezeichnete, ausgebeulte Bleihäute.“15 Auch Mario Reis zollt wiederholt in verschiedenen künstlerischen Zyklen dem Ruhrgebiet seine Verbundenheit: Das ‚Kohlekonfekt‘ - geschenkmäßig eingepackte Eierkohle -, das er zeitweise angeboten und verschenkt hat, Arbeiten mit Kohlestaub u.a. sind Beispiele hierfür. Brigitte Schwacke erinnert sich an ihr großes Erstaunen als Jugendliche, als sie erfuhr, dass unter dem Ruhrgebiet eine gradlinige Vernetzung der Verkehrswege aller Zechen besteht: Filigrane Netzwerke, die auch in graphischen Rissen der Ingenieure widergegeben wurden. In den Linien ihrer fein geknüpften Drahtarbeiten und speziell in dem Werk „Ruhrgebiet“ von 1988 kann sie sich zu dieser Erinnerung eine auslösende Wirkung vorstellen. Und auch Dirk und Maik Löbbert, die schon früh mit den Eltern aus dem Ruhrgebiet nach Hamburg verzogen, deren familiäre Verbindung jedoch nach Wattenscheid und Wanne-Eickel eng blieb, haben ihre persönliche Haltung zum Revier in Werken deutlich hervorgehoben. Die Lichtplastik „Hochlarmark bleibt in Bewegung“ (2003) am Förderturm in Recklinghausen-Hochlarmark widmeten sie ihrem Großvater, dem Bergarbeiter Erich Janzen, und das siebenteilige Lichtobjekt „Die Herner Leuchten“ von 2002 in der Innenstadt von Herne ihrer Großmutter Julianna aus Wanne-Eickel. Hingegen ist bei den beiden Jüngsten der Künstler – Gereon Krebber und Julius Stahl – kein unmittelbarer oder auch indirekter Werkbezug zu ihrer Ruhrgebietsverbundenheit zu finden. Schlussbemerkung Sicherlich wäre es interessant, diese Bezüge durch weitere Untersuchungen zu vertiefen. Aber ist dies notwendig? Ist nicht viel wichtiger, dass es deutlich wird, wie eindringlich die gesamte Struktur einer dominierend industriellen Welt auf den Menschen, und besonders auf den sensiblen ‚Künstlermenschen‘ einwirkt, ihn mit bildet und in ihm nachwirkt? Und ist es nicht viel bedeutender, dass die Ausstellung zeigt, wie von einer künstlerisch unterschätzten Region Impulse ausgehen, die für die Kunstwelt durchaus allgemein wichtig sind? Doch sei es mit den intellektuellen Erklärungen und Ableitungen nun genug: Es ist schön, dass die Künstler ‘mal wieder im Ruhrgebiet vorbeigeschaut haben und zeigen, was sie so treiben. Eine Bitte aber bleibt an sie: Haltet die Verbindung hierhin, denn das Ruhrgebiet braucht seine Künstler nach wie vor, wie Werner Graeff es ja 1952 feststellte – auch heute noch. Die Künstler haben dem Ruhrgebiet häufig genug den Weg gewiesen: klar und direkt.

1 Gespräch in ‚Westart live‘, WDR am 19.VI.2017. 2 Wegen der einfacheren Lesbarkeit sind bei dem Begriff ‚Künstler‘ im Plural immer beide Geschlechter inbegriffen. 3 Ottfried Dascher, Kunst und Gesellschaft in Dortmund und die Galerie Utermann 1853 – 1945. In: 150 UTERMANN Jahre, Dortmund 2003, S.8-54. 4 Vgl. wie bei allen weiteren historischen Daten: https://kunstgebiet.ruhr/geschichte bei der jeweiligen Jahreszahl. 5 Erik Reger: Kulturpolitik an der Ruhr. In: ‚Das Kunstblatt‘ (Herausgeber Paul Westheim), Potsdam 1929. Künstler zogen von außen ins Ruhrgebiet, wie die durch Osthaus eingeladenen Christian Rohlfs oder Milly Steger, kurzfristig auch Henry van de Velde und Walter Gropius, oder der Dresdener Conrad Felixmüller, der 1923 ein gewonnenes Rom-Stipendium gegen einen längeren Aufenthalt im Ruhrgebiet eintauschte. Schon in diesen Jahren gab es auch Künstler, die aus dem Ruhrgebiet in die Welt gingen und zu Weltgeltung kamen, wie der Bauhausmeister und spätere einflussreiche Lehrer an US-amerikanischen Kunstschulen Josef Albers, der 1888 in Bottrop geboren wurde und u.a. von 1916 bis 1919 an der Kunstgewerbeschule in Essen studierte. 6 Vgl.: Industrial Land Art im Ruhrland, herausgegeben von Burkhard Leismann und Uwe Rüth, Essen 2009. 7 Grundlegend zur Problematik der ‚Kunstlandschaft‘ ist: Harald Keller, Die Kunstlandschaften Italiens, München 1960. Hierzu auch die Rezension dieser Publikation: Herbert Lehmann, Zur Problematik der Abgrenzung von ’Kunstlandschaften‘ dargestellt am Beispiel der Po-Ebene. In: Erdkunde, Band XV, Heft 4, Dezember 1961. Inzwischen hat sich der Begriff durchgesetzt, ist aber durch die Globalisierung der zeitgenössischen Kunst als internationales Phänomen stark zurückgedrängt. Gerade aber die 57. Biennale von Venedig 2017 scheint eine neue Diskussion der ‚Kunstlandschaft‘ gerade auf dem Hintergrund der Globalisierung zu provozieren. Vgl.: Klaus Honnef, Wir müssen unsere Maßstäbe ändern. Zur Biennale von Venedig 2017. In: Kunstforum, Band 247 (57. Biennale Venedig 2017), Köln 2017, S. 54-57. 8 a) Chargesheimer/Heinrich Böll, Im Ruhrgebiet, Köln (Verlag Kiepenheuer und Witsch) 1958. Siehe hierzu auch die Publikation zur Ausstellung im Essener Ruhr Museum vom 26.V.2014 bis 18.I.2015: b) Chargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets, Köln (Verlag Walther König) 2014. 9 Zitate aus: a.a.O. (s. Anm. 8,b), S. 29 und 42. 10 Uwe Rüth, Zu Werner Graeffs Gedanken über ‚Die künstlerische Gestaltung des Ruhrlandes‘ von 1952. In: a.a.O. (s.Anm.6), S. 13-23. 11 Claudia Caesar, Der ‚Wanderkünstler‘ – ein kunstwissenschaftlicher Mythos?, Dissertation abgeschlossen Juli 2006, Universität Gesamthochschule Kassel. 12 Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder – Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2004 (2010), S.72. 13 Die Gebrüder Dirk und Maik Löbbert gelten als ein gemeinsam schaffendes Künstlerpaar. Da aber beide Künstler mit individuellen künstlerischen Lebensläufen sind, werden Sie hier als zwei Künstler behandelt. 14 Der Fotograf Timm Rautert (geb. 1941 in Tuchel/Westpreußen, aufgewachsen in Fulda) kam erst zum Studium 1966 nach Essen, wo er bis 1993 wohnte und arbeitete. 1993 bis 2007 hatte er eine Professur in Leipzig und seit 2007 hat er einen Wohnsitz in Berlin und einen zweiten in Essen. 15 Zitat aus einem Brief an den Verfasser vom 23.V.2017