BREMER KUNSTPREIS, Kunsthalle Bremen 1987, Katalog, Text von THOMAS STRAUSS

Bosslets „ Ergänzungsmaßnahmen „ oder: die neu entdeckte Liebe zur Geometrie
Einen sehr interessanten Betätigungsraum, ja sogar eine bisher relativ wenig reflektierte Lücke in den aktuellen Kunststrategien, scheint sich mit den letzten Werken Eberhard Bosslets zu füllen. Der junge WahlBerliner, beheimatet vorübergehend auch im Ruhrgebiet, in Spanien, Amerika und anderswo, hat sich in die im Grunde gar nicht so enge Bresche, die sich zwischen der Natur und den Produkten der bewußten Betätigung von Menschen („die Künstlichkeit“) ausbreitet, mutig und intelligent hineingearbeitet.
Unsere ersten historischen Vorfahren, also die Altgriechen, definierten durch die Gedankenspielereien eines Platon und seiner Schüler die trennende Grenze zwischen den Objekten der Phantasie, also des Schönheits-, Wunsch- und Kulturdenkens, und den scheinbar mit ihnen verwandten außermenschlichen Kräften der Natur. Das folgende Mittelalter, aber auch die Neuzeit, hat diese Grenzen zu sprengen versucht. Die Malerei und alle nur möglichen Handbeweise der Geschicklichkeit sollten die Wirklichkeit (und ihr kultisches und religiöses „Über“) imitieren oder sogar ersetzen. Nur ausnahmsweise, so z. B. in der Toscana des 15. Jahrhunderts, hat man sich zu der einmaligen Künstlichkeit unserer Produkte und unserer Phantasien stolz und bewußt bekannt.
Jahrhunderte stand so Kunst im Dienste der Wiedergabe- oder Illusionsprojektion. Auf den „grundsätzlichen“ (der Philosoph wird hier wahrscheinlich über Ontologie reden) Unterschied zwischen den subjektiven Impulsen der Zivilisation und Kultur und der objektiven Schönheit und dem Entwicklungsdrang der Natur selbst hat nur die aufkommende Moderne des 20. Jahrhunderts hingewiesen.
Eberhard Bosslets Werke sind so modern in der besten Tradition der Kunst unseres Jahrhunderts. Sie sind modern nicht nur durch die Gegenüberstellung der Geometrie und anderer künstlicher Formen zu der hybriden Unvollkommenheit einzelner Naturereignisse, sondern auch durch ihre überraschende, hoch intelligente Scheinverschmelzung. Durch die sozusagen: „minimale“ -malerische oder architektonisch-plastische Inszenierung, die dem Geist der Stilistik unseres Jahrhunderts vollkommen entspricht, ist die Andersartigkeit der uns umgebenden Wirklichkeit gerade durch ihr Gegenüber erkannt und definiert. Nur die etwas kitschig farbenen an einem Straßenrand zusammengereihten Fliesenstücke und Mauerbrocken verdeutlichen die wilde Schönheit der „noch unorganisierten“ Steinkünste irgendwo am Atlantik („Intervenciónes“, St. Adria-Badalona und Restina-Hiego, 1983). Die diskrete Andeutung der Anwesenheit des „künstlerischen“ Reihungsdranges hebt die von den Menschen nie erreichbare Vielfalt des „wilden Wuchs“ des Zufalls hervor.
Die Methodik der ironischen Naturimitation hat dabei auch ihre zweite - und sogar dritte - umgekehrte Seite. Neben der, wie schon gesagt: „grundsätzlichen Andersartigkeit“ können ein paar einfache Pinselstriche des Malers einzelne Dinge nicht nur entfremden, sondern auch beheimaten. Die einheitliche Linie der langen weißen Horizontale einer Straßenmarkierung verbindet z. B. die Paradoxie einer Autoruine mit der geometrischen Führung der in die Landschaft „organisch“ gesetzten Straßen („Conocidos de la carretara“., Intervention, Teneriffa 1984). Das geistvoll zuschauende Auge ist imstande, unsere Aufmerksamkeit wellenartig von einer Substanz (und der gleichzeitigen Aburteilung der anderen) zur gegenüber liegenden Konstante fließend zu lenken. Das Ergebnis des von Bosslet bevorzugten ästhetischen Forschungsprozesses: die Hervorhebung der Geometrie ist so mindestens in zwei Richtungen zu lesen.
Die Vieldeutigkeit, die zurückhaltende Beobachtungsgabe und die klar vordringende Lust am mehrschichtigen Spiel unterscheidet die Generation der zur Zeit Dreißigjährigen wahrscheinlich am deutlichsten von der aggressiven Ironie und Zivilisationskritik der Minimalisten und PopArtisten. Der Schreibtisch in Bosslets bildhauerischer Konstruktion im Treppenhaus des ersten Stocks vom Fridericianum auf der Kasseler 8. Documenta hat vorwiegend eine tragende und strukturell bedingt auch teilende Funktion. Er ist ins Werk völlig integriert und in seiner paradoxen Einmaligkeit gar nicht bemerkbar. Im Unterschied zur bösartigen Prophetie aller Oldenburgs, Serras und Warhols, ist für die heutige Jugend die Welt der industriellen Gegenstände schon eine organisch gewachsene, im Bezug auf die Kunstkonstruktionen könnte man sagen, tektonisch gegebene.
Ohne es besonders zu betonen (oder sogar: ohne es bewußt auch zu wissen!) ist Bosslets Zitation der monumentalen Pathosgeometrie bei der Bemalung einer Hausruine („Concomitancia II“, 1984 auf Teneriffa) gleichzeitig eine klare Huldigung des zur Zeit modisch mißverstandenen Mondrians, Rietvelds, Mies van der Rohes oder Tatlins. Die umstrukturierte weißeWand und sogar der zur Zeit so gehaßte Sichtbeton beginnen durch den künstlichen Rhythmus von Formen auf einmal großatmig zu leben. Ob bewußt oder ungewollt und aller Postmoderne zum Trotz, auch der einfachste Eingriff bedeutet eine Belebung des ansonsten lang schon zum Tode verurteilten Erfindungsgeistes der plastischen oder architektonischen Malerei aus der Zeit um 1911. Wie schon immer in der Kunstgeschichte, läuft der Prozeß des Entdeckens von Vorfahren nach einer festgelegten inneren Logik. Gegen die Generation der Väter, entdecken die Jungen mit Liebe zuerst die vergessenen und der Lächerlichkeit ausgesetzten Vorbilder der eigenen Großeltern.
Die Entdeckungsfahrten Eberhard Bosslets erweisen dabei eine klar zu erkennende Entwicklungslinie. Am Anfang - sozusagen zur eigenen Orientierung - setzt sich der Maler mit den aus den 70er Jahren übergreifenden Strukturgedanken der konzeptuellen Kunst auseinander. Die nützlichsten Mittel sind ihm bei dieser Selbstfindung notwendigerweise das Photo und das Dokumentations Video-Band. Zur Mitte der achtziger Jahre entdeckt Bosslet die materielle Poesie der unmittelbaren Monumentalität. Der zweijährige Aufenthalt in Wilhelm Lehmbrucks Geburtsstadt Duisburg bedeutet vorwiegend das systematische Abtasten der materiellen Aufbauregeln der Plastik.
Die Aufeinanderreihung von fest gepreßten Holzschichten mit den gegebenen Grenzpositionen von Decke und Boden bringt die Erkenntnis der raumstrukturierenden Innenbezogenheit der Plastik mit sich. Die statischen und konstitutiven Elemente geben gleichzeitig ein Zeugnis der poetischen Pseudodienlichkeit einzelner Materialien ab. Die Stahlrohr-Deckenstützen bilden durch die unter brechenden Faktoren der zufällig gefundenen Objekte eine neue Werkimmanenz. Das Einmalige wird zur Regel erhoben.
Das Spiel mit den „Unterstützenden Maßnahmen“ (so die Programmatik der neuesten plastischen Werke) leitet nach der oben beschriebenen Logik die Poesie von den in die Skulptur integrierten Roh-Gegenständen weiter zum umgebenden Raum über. Die „Unfertigkeit“ der Plastik entlarvt in einer metaphorischen Weise die „Unfertigkeit“ der uns umgebenden Betonarchitektur. Da man hier aber die Mißverständnisse ausschließt und die klare Materialität nicht als eine Art der Neubelebung von Dada-Poesie deutet, muß die Skulptur und der Raum noch durch die eindeutige Aussagekraft der Malerei ergänzt und betrachtet werden. In der Malerei, der bis jetzt letzten Entwicklungsstufe von Bosslets Werken, gewinnt die evokative Großzügigkeit der geometrischen Formsprache ihren klarsten Ausdruck und ihre Schlagfertigkeit. Die auf dem feuerverzinkten Blech mit Aluminium-, Asphalt- und Lackfarbe rasan und pastos mit deutlichen Spuren von Handschrift aufgetragenen geometrischen Grundmuster deuten eine unverhüllt subjektive Umwertung der schon eingeprägten Zivilisationsmotive und Sehweisen an.
Bosslets Weg von konzeptuellen Gedankenexperimenten und Photoreflexionen über die Bestimmtheit der materiellen Architektonik zur malerischen Aufwertung von grundsätzlichen Aufbauformen unserer Umwelt läßt dabei eine eigene Entwicklungstendenz durchblicken. Jede Etappe dieses Weges hat nämlich ihre eigene illusionsaufbauende und -zerstörende Optik und eigene Stilkriterien. Jede bringt so zusätzlich auch ihre eigenen und gegeneinander schwer aufzurechnenden Ergebnisse. Die Interventionen und Fotodokumente aus Spanien bleiben so wirksam auch neben der brutalen Materialität von Bosslets architektonischen Skulpturen, die z. B. das Profil der diesjährigen Documenta-Schau so entscheidend mitprägten. Und obwohl die „reine Malerei“ nun jetzt dabei ist, sich selbständig der Ausstellungskonfrontation zu stellen, ist es mit bestimmter Vorsicht möglich, von einer Synthese des bisherigen Schaffens Eberhard Bosslets zu reden.
Im Spätfrühling, ursprünglich von dem Künstler möglicherweise gar nicht beabsichtigt, gerieten bei der bis jetzt letzten individuellen Ausstellung Bosslets (Galerie Carla Stützer, Köln, 30. 4.-6. 6. 1987) die verschiedenen Werkschichten in eine direkte optische Konfrontation. Ihr Ergebnis ist eher ermutigend. Statt der gegenseitigen Abrechnung der auseinandertreibenden Semantik von der konzeptuellen Photoarbeit, Raumskulptur und einer neuen dekorativen Malerei deutet sich hier ihre Einheit auf einer schon ziemlich ausgeprägten und gehobenen individuellen Ebene an. Bosslets „one-man-show“ zählte so zu den bis jetzt unbestreitbaren Höhepunkten der diesjährigen Kölner Ausstellungssaison. In den Werken des heute noch nicht Fünfunddreißigjährigen meldet sich scheinbar eine neue und überraschend konsequente Spielart der zeitgenössischen Ästhetik zu Wort.
Thomas Strauss