DE – Grewenig, Meinrad Maria; Katalog Essay Eberhard Bosslet Dingsda, Saarland Museum, Saarbrücken 2012

Dingsda
Eberhard Bosslet hat für seine Ausstellung im Saarland.Museum den Ausstellungstitel „Dingsda“ gewählt.
Er thematisiert mit dem Begriff aus der Umgangs- und Kindersprache das Kernanliegen seines
Kunstkonzepts und seiner Kunst. Diese ist zuerst Intervention, Installation, Großskulptur, verwendet
vorhandene Elemente, die er neu zusammenfügt. Dabei greift er in bestehende Raum- und Ortskonstellationen
ein, verändert diese und macht sie neu erfahrbar. Der Titel „Dingsda“ verweist auf
die universelle Dimension dieses interventionalen Konzeptansatzes. Ein Dingsda ist eben ein Dings,
das man für nahezu alles gebrauchen kann. Es kann überall, an jedem Ort, aber auch da hinten sein.
Insofern wirkt der Begriff „Dingsda“ wie ein Schlüssel für das künstlerische Konzept Eberhard
Bosslets, das mächtiger ist als das, was aus Sprachlichem oder Logozentrischem erwachsen kann,
und über alles, was aus sprachlichem Denken ableitbar ist, weit hinausgeht. Im gemeinsamen Sehen
der Sachverhalte ist mit dem Hinweis Dingsda Übereinkunft zu erzielen, basierend auf dem gemeinsam
in der Welt zu erfahrenden und zu beschreibendem Werk.
Die erste Idee zu dieser Ausstellung war eine Präsentation im Saarland.Museum Alte Sammlung.
Dann zeigte es sich, Ende 2011, dass das Saarland.Museum Moderne Galerie nach 18 Monaten
Schließung wieder neu eröffnet werden konnte. Mit dieser Entscheidung verlagerte sich der Schwerpunkt
des Ausstellungsprojektes dorthin. Es entstand „Dingsda“, neun Großinstallationen mit 30
Einzelprojekten an sechs Orten und in drei Museen der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz: dem
Saarland.Museum Moderne Galerie, dem Saarland.Museum Alte Sammlung mit der Schlosskirche.
Auch der der sogenannte Vierte Pavillon wurde einbezogen. Im Rohbau wurde eine Blitzer-Installation
mit dem Titel „Saarbrücker Highlight“ montiert, die während der Ausstellung für Besucher als nächtlicher
Reflex durch die Fenster sichtbar ist, aber nicht besichtigt werden kann. Die Installationen der
Ausstellung wurden von Eberhard Bosslet für die Orte im Saarland.Museum konzipiert und vor Ort
realisiert. Das Ausstellungsprojekt „Eberhard Bosslet Dingsda“ in der Modernen Galerie und der
Alten Sammlung entfaltet so an unterschiedlichen Orten seine ganze Wucht und Präsenz, aber auch
seine besondere Ästhetik, seinen Reiz und vor allem seine die Fantasie auslösende Kraft.
Auf den ersten Blick scheinen die sechs präsentierten Werkkomplexe die „Anthropomorphen
Formen“ (S. 3 |18), die „Barrieren“ (S. 2 | 62), die „Unterstützenden Maßnahmen“ (S. 4 | 40), die
„Modularen Strukturen“ (S. 5 | 6, 7 | 70), die überlebensgroßen Fotos mit „Schrott & Sonne“ und
„EinRaumHaus“ (S. 8, 9 | 22), die Installation „Roundabout“ (S. 8, 9 | 16) und der „Closed Circut
Commerce – extended version“ (S. 10, 11 | 84) disparat. Dieser erste Eindruck ist jedoch nur die oberflächliche
Sicht. Alle Werke eint das gleichartige konzeptionelle Zugehen auf die Installationen, die
immer Raumgebilde sind. Eberhard Bosslet erforscht in unterschiedlichen Werkgruppen über
Jahrzehnte seine Raumthemata und experimentiert mit ihrer Wirkung. Es entstehen konzeptionelle
Reihen, die aktuelle Werke fest in der Entwicklungsreihe ihres Entstehens verankern. Zeit als Sukzession,
aber auch als Folge ablesbarer Zustände spielt eine große Rolle, sowohl in der Erscheinung seiner
Werke als auch in der Konzeption und Realisierung. Für Eberhard Bosselt gehört zu jedem seiner
Werke der Plan seiner Errichtung, im Sinne eines im Planzustand imaginierten Endergebnisses seines
Gestaltungsprozesses. Er beginnt mit dem archäologischen Finden der Elemente in unserer täglichen
Welt, die die Bausteine seiner Skulpturen, Plastiken und Installationen werden. Der Gestaltungsprozess
integriert eine extreme Detailkenntnis der Elemente, ihrer Herkunft und der Möglichkeiten
ihres Beschaffens. So umfasst der Plan eines Werkes nicht nur seine spätere Erscheinung, sondern
auch die Stückliste seiner Herkunft. Auf Elementeebene betreibt Eberhard Bosslet eine Transformation
der Dinge in ihre neue künstlerische Wirklichkeit, die, einer Aufführung gleich, Intervention und
Installation im Zeitraum der Ausstellung ist. Findet sich nach dem Prozess der Ausstellung kein neuer
Eigentümer für ein Werk, wird dieses mit aller Konsequenz wieder in seine Einzelteile zerlegt und findet
den Weg zurück zu seiner ursprünglichen Verwendung. Die Dokumentation im Katalogbuch und im
Internetarchiv, über den Lebenszyklus hinaus, sichert seine Wirklichkeit. Der Zeitlauf des Gestaltungsprozesses
verbindet sich mit der Zeit seiner Aufführung und seiner Dokumentation zu einem Begriff
des Werks und seiner Werkgruppe, auch hier ein Dingsda.
Eberhard Bosslet gehört zu der Generation der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborenen
Künstler; seit 1979 beschäftigt er sich in seinem künstlerischen Werk mit den Bedingungen und
Verhaltensmustern im Außen- und Innenraum, in privaten und öffentlichen Räumen. Er prägte und
aktualisierte seitdem mit seinen Eingriffen in den architektonischen Innen- und Außenraum den Begriff
der Intervention. Er setzt in seinen Arbeiten ausschließlich Materialien, Produkte und Techniken
aus der industriellen und gewerblichen Wirklichkeit ein. Die verwendeten unedlen und alltäglichen
Materialien sind immer wesentlicher, sichtbarer und funktionsästhetischer Bestandteil seiner Werke.
Eberhard Bosslet gilt, spätestens seit seiner Einladung zur documenta 8, als einer der international
bedeutendsten Künstler im Bereich künstlerischer Rauminterventionen.
Die ältesten Wurzlen besitzen die Fotografien aus den Werkgruppe „Schrott & Sonne“ und „EinRaum-
Haus“. Eberhard Bosslet hat in der Rauminstallation im Saarland.Museum in 11 Großfotografien
(S. 8, 9 | 28 – 39) aus den beiden Werkgruppen den Moment von Vergehen, Mobilität und Immobilität
sichtbar gemacht. Die Bilder thematisieren das zeitliche Miteinander und die Interferenz von weitläufiger
gegliederter Landschaft und den menschlichen Eingriffen in diese. Die großen, aber trotzdem
unprätentiösen Bilder ehemals „automobiler“ Objekte in der Weite der Landschaft stehen in Korrespondenz
mit immobilen Kleinstbauwerken, die ein vergleichbares Schicksal teilen. Die Fotos Eberhard
Bosslet verstetigen den Moment, in dem unterschiedliche zeitliche Prozesse zusammenfließen
und in der Darstellung gleichartig werden. Mit „Roundabout“, 2012, (S. 8, 9 |16) hat Eberhard Bosslet
mitten im Saal zwischen der Installation der Werkgruppen „Schrott & Sonne“ und „EinRaumHaus“
ein Ensemble aus sich fortlaufend drehenden, ausgemusterten Betonmischern geschaffen. Diese
sind auf einem knietiefen Kieshaufen abgelagert. Das desolate Rotieren der Mischer, die ihre produktivsten
Tage längst hinter sich haben, erzeugt einen unüberhörbaren Klangteppich und suggeriert
stete Betriebsamkeit, ohne dass sich wirklich etwas ereignet. Dazu erzeugt ein altes, vom langen
Gebrauch gezeichnetes Kofferradio eine populäre Klangwolke des regionalen Senders. Die installative
Skulptur steht im Zusammenhang mit dem Konzept der „Barrieren“. Die Inszenierung erinnert entfernt
auch an die von Eberhard Bosslet seit 1983 durchgeführten Arbeiten mit Bauschutt an der
Deponie. Konzeptionell legt diese Arbeit die Grundgegebenheiten des Betonierens auseinander. Der
Kies, die Mischmaschinen, ihr Rotieren und die Musikberieselung verweisen jeweils für sich auf ein
Grundelement dieses Prozesses. In der Arbeit vereint Eberhard Bosslet die Elemente bild- und erfahrungshaft
zu einem visuellen Gesamterlebnis.
Die Betonskulptur „Univers I Saar“ (S. 2 | 65), eine „Barriere“, wurde vor Ort hergestellt und tritt in
Dialog mit dem Gebäude der Modernen Galerie, das in seinem Innern eine ähnliche Betonstruktur
aufweist. Wegen seines außerordentlich hohen Gewichts erforderte die Verwirklichung eine umfassende
Kenntnis der verborgenen statischen Zusammenhänge des Gebäudes. Die Barriere „Univers I
Saar“ sperrt den Raum ab, in den sie eingepasst ist. In direkten Bezug dazu stellt Eberhard Bosslet
fünf unterschiedliche, in der Formensprache verwandte großvolumige Einzelkörper, die in einem Ensemble
zusammenfinden. Die Skulpturen „Huldigung“ (S. 3 | 18) stehen in Verbindung zur Werkgruppe
der „Bilateralen Beziehungen", 1993 – 1998, und den Bio- und Geomorphen Skulpturen, seit 2001
Die Grundform basiert auf einem Kegelstumpf. Die Arbeiten stehen jeweils direkt auf dem Boden.
Formal und inhaltlich bauen diese Objekte auf der in Aluminiumguss realisierten Werkgruppe der
„Gloriolen/Bilateralen Beziehungen" auf, die als Wandobjekte realisiert wurden. Die rundum vertikalsymmetrischen
Formen lösen einerseits technische Assoziationen aus und verbinden andererseits
Hinweise auf profanes Design mit der Erhabenheit sakraler Formen.
Seit 1985 entwickelt Eberhard Bosslet das Konzept der Werkgruppe „Unterstützende Maßnahmen“
weiter. „Grundkredit Saar 89/12“ (S. 4 | 42) steht am Ende dieser Entwicklung. Es ist eine konstruktivsperrige
Konstruktion aus Schalungssystemen des Baugewerbes und des industriellen Bauens. In
der Regel sind die „Unterstützende Maßnahmen“ zwischen Boden und Decke oder zwischen Wänden
in Innenräume eingespannt. Diese Installationen beziehen sich konstruktiv und real auf den Raum.
Durch ihre Anwesenheit versperren sie diesen an definierten Positionen, teilen ihn in verschiedene
Segmente und gliedern ihn neu. Durch die massive Verwendung baukonstruktiver Elemente machen
die „Unterstützenden Maßnahmen“ auch den zeitlichen Prozess und die unterschiedlichen gleichzeitigen
Zustände des sichtbaren Gebauten erlebbar und verweisen auf den Prozess der Intervention.
Mit diesen Werken begründete er seinen internationalen Ruf und gab dem Begriff der Installation
eine unverwechselbare Bedeutung.
„Hochkant 90/09/12 Saar-PERI“ (S. 5 | 77) steht am Ende der Entwicklung der „Modularen Strukturen“.
Diese Arbeit ist eine autonome, im Innenraum frei stehende Großskulptur aus Ausrüstungsgegenständen
des Baugewerbes. Sie steht konzeptionell den „Unterstützenden Maßnahmen“ nahe, unterscheidet
sich jedoch von diesen dadurch, dass sie reale Raumbestandteile nicht verspannt oder
stützt. Eberhard Bosslet beschäftigt sich seit 1988 mit dem Thema der „Modularen Strukturen".
Ähnlich den „Unterstützenden Maßnahmen“ beziehen sie sich konstruktiv und real auf den Raum
und definieren durch ihre Anwesenheit die Raumkoordinaten neu. In dem spätgotischen Raum der
Schlosskirche mit ihren barocken Grabmälern der Grafen und Fürsten von Nassau-Saarbrücken,
Saarland.Museum Alte Sammlung, wird das Kirchenschiff durch die weit übermenschenhohe Großskulptur
„Werk IV SK Saar“ (S. 6, 7 | 72) in aufregender Weise neu definiert.
In seiner Installation „Closed Circuit Commerce – extented version“ (S. 9, 10 | 86) verwendet Eberhard
Bosslet die Vielzahl von 100 handelsüblichen Einkaufswagen, die er zu einem großen Kreis schließt.
Seit den 80er-Jahren bewegt ihn die Fantasie zu diesen Kreisen. Im Transfer in den Innenraum des
Saarland.Museums verändert er die Anmutung dieses Kreises, der sonst in spontaner Weise im
öffentlichen Areal von Supermärkten realisiert wird, indem er die Einkaufswagen auf den Kopf stellt.
Die Laufrollen zeigen nach oben. Eberhard Bosslet spielt auf das aktuelle Thema von geschlossenen
Wirtschaftskreisläufen an und auf die Frage, wer am Konsum teilnehmen darf oder ausgeschlossen
bleibt. Die real verlorene Mobilität parallelisiert Eberhard Bosslet durch eine virtuelle Mobilität. Er
erweitert den Interpretationsrahmen dieses Konzepts durch die Kombination mit drei frei agierenden
Livestream-Roboterkameras. Mittels selbst fahrender, programmgesteuerter akkuelektrisch angetriebener
Mähroboter wird zeitgleich durch mehrere Funkkameras das Umfeld aufgenommen und auf
Flachbildfernseher übertragen. Die Position der selbst fahrenden Kamera befindet sich nahe dem
Boden. Diese Aufnahmen entstehen ohne menschliches Zutun. Durch die niedrige Perspektive und
das nicht vorhersehbare Fahrverhalten der bildgebenden Kameraroboter, die auch durch das Verhalten
der Besucher im Raum beeinflusst werden, entsteht ein sowohl ungewöhnliches räumlich-dingliches
als auch mediales Bild, eben ein Dingsda.