Heilbronner Stimme, 6.9.1995, von CLAUDIA IHLEFELD

Aus dem Leben eines Schalungsträgers

Ein gelber, begehbarerTurm im Stadtgarten vor der Kunsthalle: Eberhard Bosslets „Interventionen“

„95 Prozent unseres Alltags“, sagt Eberhard Bosslet, „sind doch technisch hergestellte Produkte.“ „Wir sind beeinflußt von technischen Vorgängen.“ Mit zwei Fotokameras und einer Videokamera ausstaffiert, verfolgt der in Speyer geborene Künstler die Installation seines jüngsten Projekts: ein gut zehn Meter hoher Turm im Stadtgarten vor der Harmonie.
Seit dem späten Dienstag vormittag sind ein Dutzend Leute mit dem ungewöhnlichen Turmbau beschäftigt. Am Abend ragt schließlich die raumgreifende Plastik in den Himmel empor, gelb und stolz. Nur noch die Krone fehlt und die Scheinwerfer am Außenbalkon, die ins Innere des Turms strahlen sollen. Bis Ende Oktober ist die Plastik zu bewundern, als Teil von Bosslets Ausstellung „Planen“, die der Kunstverein ab Sonntag, 10. September, zeigt. Nach der Stele von Erwin Wortelkamp, die seit 1981 vor der Harmonie steht, und Valerij Bugrovs Lichtpfeil, der 1991 mehrere Wochen lang auf dem Wartberg installiert war, holt der Kunstverein mit Bosslets Turm die dritte Großskulptur nach Heilbronn, das einst im Mittelalter viele Türme zählte.
Die Spezialität von Eberhard Bosslet, Jahrgang 1953, der in Duisburg und Berlin arbeitet: Eingriffe in vorhandene architektonische Situationen. „Interventionen“ nennt er seit Anfang der 80er Jahre diesen Bereich seiner Arbeiten. Interventionen in Landschaften, Außenräume, Gebäude und jetzt in den Stadtgarten vor der Kunsthalle. Dabei verwendet er in der alltäglichen Arbeitswelt vorgefundene Materialien und industriell vorgeformte Ausrüstungsgegenstände.
„Was wird da gebaut“, will ein verdutzter Passant wissen. „Ein Turm.“ „Wozu?“ ,,Zum Anschauen“, lautet Bosslets lapidare Antwort. Seine Eingriffe in den öffentlichen Raum versteht er als ein visuelles, attraktives Ereignis. Das man gut, schön oder auch nicht schön finden darf, jenseits eines überladenen Kunstbegriffs. Was nicht heißt, daß Bosslets Arbeiten nicht in erster Linie das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von Kunst sind. Was ihn stört, ist vielmehr das für Deutschland so typische „Zweckdenken“, wie er es nennt. Überhaupt: Die ständige Diskussion was Kunst ist oder sein soll. „Kunst ist eine Kategorie und keine Wertung.“ Was dabei an Gutem, gar Genialem herauskommt, das entscheidet die Zeit.
Möglich wurde die Ausführung von Bosslets jüngstem Projekt, seiner ersten freistehenden Außeninstallation dieser Größe, erst durch die Unterstützung der Firmen Ensle Heilbronn und Peri Stuttgart. Sie stellten zum Nulltarif Material und Arbeitszeit zur Verfügung. Nach Bosslets Plänen wurden seit Freitag Rundschalungselemente gefertigt. wie sie auf Großbaustellen zum Betongießen dienen. Aus dem alltäglichen Bausystem aber entstand etwas ganz Neues: eine begehbare Plastik von strenger Schönheit: Ein Turm, der für kurze Zeit das Stadtbild von Heilbronn bereichern wird.