EBERHARD BOSSLET, Kunstverein Heidelberg, 1987, Katalog, von HANS GERCKE

ANGEBOT ZUR WAHRNEHMUNG

In einem früheren Beitrag, "WAHR-NEHMEN" überschrieben, hat sich Eberhard Bosslet mit dem Phänomen
des Lichtes befaßt: In einer Fabrikhalle seiner Heimatstadt Speyer wurden die Besucher dem Wechselbad
totaler Dunkelheit und gleitender Helle ausgesetzt. Im Dunkeln leuchteten die mit Phosphorfarbe übermalten
Stromleitungen auf. Scheinwerfer tasteten den Raum ab, arbeiteten seine Strukturen mit Rechteck-, Kreis-, Linien und Karoraster heraus. Projektionen konfrontierten die Realität des Raumes mit dessen maßstabgerecht, fragmentiertem Bild. Dies war 1979.
Vier Jahre später hat Bosslet mit weißer Farbe im strahlenden Licht der Kanarischen Inseln die Konturen von Ruinen-Fragmenten nachgezeichnet. "INTERVENTIONEN" nannte der Künstler diese Art von Malerei, die unmittelbar in die Landschaft eingriff und dabei zu eigenartig ambivalenten Resultaten führte.
Auf Bestehen, Vorgegebenes, wurde hingewiesen, Unbeachtetes unübersehbar, ein "zufälliger" Zustand der
Zerstörung bewußt gemacht, ein Moment fixiert, die Zeit angehalten, eine Situation definiert, "bezeichnet". Zugleich aber entstand damit etwas Neues, extrem Künstliches, ein Bild, das jedoch die traditionelle Vorstellung eines Bildes umkehrte: In der Fläche erschien nicht die Illusion eines Raumes, sondern im Raum die imaginäre Realität einer gezeichneten Fläche.
Mit der Ambivalenz realer und imaginärer - im wörtlichen Sinn, von "imago", das Bild - Bezüge zwischen
Raum und Fläche, zwischen vorgegebener Situation und deren künstlerischer Interpretation, die zugleich
"Intervention" ist, will sagen Eingriff, Zugriff, haben alle Arbeiten Bosslets zu tun, seien es Malereien,
Bodenplastiken oder "UNTERSTÜTZENDE MASSNAHMEN". Die schrittweise Entfernung von der gängigen Terminologie kommt dabei nicht von ungefähr: Der traditionelle Begriff "Malerei" deckt immerhin ab, was Eberhard Bosslet auf sehr spezifische Weise mit den Elementen dieses Mediums, mit Linie, Fläche, Farbe, Material und assoziativem oder tatsächlichem Raumbezug anstellt. In einem weiteren Beitrag dieses Buches wird hiervon ausführlicher die Rede sein.
Schon die Begriffe "Plastik" oder "Skulptur" aber, zumeist unpräzise als Synonyme gebraucht, erfassen nicht mehr, was es mit diesen Objekten auf sich hat. Bedeutet "Plastik" ein Aufbauen von Form aus amorpher Materie, ein additives, von formgebenden Kräften, von Druck und Gegendruck bestimmtes Verfahren, so "Skulptur"
(von lateinisch "sculpere") umgekehrt das Herausschälen eines latent oder zumindest potentiell bereits Vorhandenen
durch Zerstörung, durch Wegnehmen von Materie. Ein dem Terminus "Malerei" vergleichbarer allgemeiner
Begriff, der übergreifend das Arbeiten im dreidimensionalen Bereich bezeichnet, ist nicht gebräuchlich.

Bosslets BODENPLASTIKEN sind "plastisch" im Sinne eines additiven Entstehens, doch kann von Formung im traditionellen Verständnis keine Rede sein. Eher ist der Prozeß ihrer Herstellung mit dem des Konstruierens, des Bauens aus vorgegebenen Teilen zu vergleichen, womit Bosslet freilich nicht alleine steht. Diese Objekte haben architektonischen Charakter, sie enthalten Raum, Räume, aber sie haben, im Sinne der zuvor angesprochenen Elemente, durchaus auch Aspekte, die sie mit Malerei in Verbindung bringen.
Ebenso wie die "Unterstützenden Maßnahmen" sind sie variabel, nach dem Baukastenprinzip zusammenstellbar, zu verändern und wieder auseinanderzunehmen, und ebenso bestehen sie aus Bestandteilen, die vorgegeben und vorgefunden sind und deren alltägliche Verwendung sich keineswegs grundlegend unterscheidet von der Art, wie sie hier variiert wird. Also keine "Verfremdung" im vordergründigen Sinn, sondern wiederum jene bereits skizzierte Ambivalenz einerseits eines Hinweises, der unterstreicht, präzisiert, definiert, wahrnehmbar macht, und andererseits der Entstehung von etwas anderem, Neuem. Dies aber bedeutet - und der Widerspruch zum Vorgang des Präzisierens ist allenfalls scheinbar zugleich ein Öffnen und Weiten, in dem Mehrdeutigkeit als etwas Eindeutiges artikuliert wird.
Mit den "Unterstützenden Maßnahmen" haben die Bodenplastiken die Klarheit einer konstruktiv definierten Skulptur gemein, sie unterscheiden sich jedoch, trotz ihrer Variabilität, durch ihren hermetischen, vom Umraum vergleichsweise unabhängigen Charakter.
Die "Unterstützenden Maßnahmen" haben Installationscharakter und sind konkret auf einen vorgegebenen Raum bezogen, von dem sie sich nicht ablösen lassen, ohne ihre Identität zu verlieren. Allerdings ist eine Neuinstallation in anderem, aber vergleichbarem Kontext möglich. Diese Arbeiten ruhen nicht in sich selbst, sondern ihre Faszination liegt in der Kraft begründet, die in ihnen, bezogen auf ihre Position im Raum, konkretisiert wird: Scheinbar tragen sie die Decke des Raumes, tatsächlich aber stemmen sie sich dagegen, stemmen sie etwas nach oben, widersetzen sie sich der Schwerkraft, halten etwa einen gewichtigen Metallaktenschrank unter der Decke fest.
Kein Wunder, daß dieser straff geordnete Wald aus Stahlrohr-Deckenstützen etwas von einem kannelierten Pilaster hat oder von gotischem Stabwerk, und wie von selbst ergeben sich Beziehungen auch zum Menschen, dessen aufrechter Gang und Stand sich nicht nur gegen den Fall, gegen das unvermeidliche Zurücksinken zur Erde wehrt, sondern der immer auch verstanden wurde als einer, der Last trägt, der sich nicht beliebig ins Freie eines leeren, luftigen Himmels erheben kann, nicht nur, weil er von unten gehalten, sondern weil er von der ehernen Schwere dieses Himmels auf die Erde gedrückt wird.
Griechen und Römer haben die Säule als Abbild des Atlas verstanden, des Riesen, dessen breite Schultern das Himmelsgewölbe tragen. Eine seiner neueren Arbeiten hat Eberhard Bosslet "Atlas" genannt (Seite 10/11) und damit ein Motiv thematisiert, das nicht nur zentral im Bereich der Architektur ist, sondern diese so straff konstruktiven, durchaus in der Welt des Technischen beheimateten Arbeiten auf überraschende Weise in den Zusammenhang mit klassischer Skulptur stellt: Der aufrechte Stand des Menschen, die dynamische Statik seiner Figur und damit seiner Existenz ist von altersher ein dominierendes Thema der europäischen Plastik gewesen.
Hans Gercke